1985 schrieb der amerikanische Medienwissenschaftler Neil Postman in seinem Klassiker "Amusing Ourselves to Death" - übersetzt: "Wir amüsieren uns zu Tode" - über die "Now This"-Kultur.
Die "Now This"-Kultur - damit meinte er, dass das Fernsehen in den Nachrichten jedes Ereignis gleichsetzt, sei es eine Meldung über Millionen verhungernde Menschen oder über ein Konzert von Madonna. Berichtet wird in identischer Form. Übergeleitet mit einem "Now this" - einem "Und jetzt zu".
Wenn unterschiedlichste Nachrichten gleichrangig wirkenPostman glaubte: Damit werden die beiden Themen gleichrangig - in unserer Wahrnehmung: gleich wichtig. Wir können nicht mehr unterscheiden, was wir wissen sollten. Wir werden eingelullt, tun nichts mehr gegen wirklich schreckliche Dinge. Alle Ereignisse sind nur noch zu unserem Amusement da - unserer Unterhaltung.
Mit einem „Und jetzt zu" leiten Moderatoren in Fernsehen und Radio immer noch zum nächsten Thema über. Doch zumindest treffen Journalisten jeden Tag Entscheidungen. Darüber, welche Meldungen es heute in ihre Sendung schaffen, welchem Thema sie sich wie lange widmen, was das Wichtigste ist. Ganz gewiss ist diese Entscheidung subjektiv, doch zumindest wurde sie nach bestem Wissen und Gewissen getroffen, und: mit Sachverstand.
"Und jetzt zu" in den Sozialen NetzwerkenIn den Sozialen Netzwerken ist das nicht der Fall. Klar, Facebook, Instagram und Twitter filtern Meldungen nach komplizierten Algorithmen. Nach Beliebtheit, nach Verweildauer, nach Werbeetat. Aber nach Wichtigkeit? Eher nicht. Nach Vertrauenswürdigkeit? Schon gar nicht.
Wer nach dem Terroranschlag von London in den Netzwerken unterwegs war, der erlebte die "Now this"-Kultur auf die Spitze getrieben.
Denn obwohl Ereignisse wie ein Terroranschlag natürlich auch die sozialen Medien dominieren, die Feeds bleiben nicht stehen. Weiter stürmt auch Triviales, Nichtiges, Witziges auf uns ein. Und alle machen mit: die Medien, aber auch jeder einzelne Nutzer. Denn vom Empfänger sind wir auch noch zum Sender geworden.
Schwerverletzte Terroropfer neben UrlaubsgrüßenZwischen den Fotos von Schwerverletzten auf der Westminsterbridge fanden sich in meiner Timeline deshalb auch am Mittwochnachmittag immer noch Memes und witzige Videos. Unter dem Bild einer Frau, etwa in meinem Alter, die blutend auf dem Bürgersteig lag, konnte ich in einem Video sehen, dass ein Mädchen dem Papst bei einer Audienz die Mütze geklaut hatte. Lustig. Und die aktuellen Urlaubsbilder meiner Freunde. Alles gleich groß, gleich bunt, gleich wichtig.
Neil Postman glaubte: Eine Pause in der "Und jetzt zu"-Kultur ist nicht mehr möglich. Wir haben uns mit dem Fernsehen ein Medium geschaffen, das immer bedient werden will. In Zeiten der sozialen Medien stimmt das noch viel mehr: Einen echten Schock, ein Innehalten gibt es nicht. Egal, was passiert.
„Und jetzt zu:"Was also tun? Selbst innehalten? Einfach nicht mehr hinsehen? Ausloggen?
Aber wenn ich doch wissen will, was passiert ist? Dann muss ich, wenn's ernst wird, vielleicht doch riskieren, auf Journalisten zu vertrauen. Denn die werden ja schließlich dafür bezahlt, die Ereignisse auf der Welt zu ordnen und einzuordnen. Es ist ihr Beruf, uns zu sagen: „Das ist jetzt wirklich wichtig." Von Facebook und Twitter können wir das nicht erwarten.