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Wer pflegt die Pflegebranche?: Viele „Experten" - wenig Know How

Dan Race - Fotolia.com©

Die sehr provokante Überschrift ist mehr als bewusst gewählt, auch wenn sich das Problem wohl nicht ausschließlich auf die Pflegebranche beschränkt. Denn in Zeiten von Google schießen in allen Bereichen Experten wie Pilze aus dem Boden. Nichtwissen wird seither von Halbwissen, Dreiviertelwissen oder völligen Irrtum ersetzt und ungehemmt propagiert.

Eine Entwicklung, die im Privatleben gerne zu absurden Diskussionen führt und manchmal sogar gefährlich werden kann. 

Bei Gesundheitsinformationen zum Beispiel ist Vorsicht geboten. Laut dem Branchenverband Bitkom suchen 28 Millionen Bundesbürger in Gesundheitsfragen erste Hilfe im Internet. Mit den gegoogelten Informationen, bereits diagnostiziertem Krankheitsbild und Therapievorschlag geht es dann zum Experten mit der Bitte um das gewünschte Rezept. Was Mediziner seit Kurzem in eine paradoxe Situation bringt, ist für Pflegekräfte schon viel zu lange bittere Realität.


Die Pflege - fremdgesteuert aus Tradition 

Bedingt durch die Nähe zur Medizin und getragen vom Wert der christlichen Nächstenliebe waren es zunächst Ärzte und Theologen, die pflegerisches Handeln bestimmten. Sie gründeten Schulen, lehrten, aus deren Sicht für die Pflegekräfte, relevante Inhalte, gaben Werte vor und forderten entsprechenden Gehorsam. Der Einfluss beider Berufsgruppen ist in der Gegenwart noch deutlich spürbar und erschwert die Professionalisierung des Pflegeberufs nachhaltig. Dass sich die Krankenpflege als Disziplin mit eigenständigem, pflegerischem Wissen auch neben der Medizin und ohne Tugenden wie christliche Nächstenliebe entwickelt hätte, zeigt ein Blick nach Großbritannien. Denn was heute im Krankenpflegegesetz als Ausbildungsziel beschrieben steht: „Die(...)Pflege ist dabei unter Einbeziehung präventiver, rehabilitativer und palliativer Maßnahmen auf die Wiedererlangung, Verbesserung, Erhaltung und Förderung der physischen und psychischen Gesundheit der zu pflegenden Menschen auszurichten (KrPflG §3 Abs.1)", hat Florence Nightingale (Begründerin der modernen westlichen Krankenpflege) bereits Ende des achtzehnten Jahrhunderts als Aufgabe pflegerischen Handelns erkannt und beschrieben.

Damals wie heute arbeiten Mediziner und Pflegekräfte Hand in Hand, unterscheiden sich aber in ihrer Zielsetzung. Während die Medizin vorwiegend kurativ, also auf die Heilung fokussiert ist, hat die Pflege den Anspruch, unabhängig davon, ob ein Mensch akut oder chronisch krank ist, psychische oder physische Defizite beklagt, genesen wird oder dem Tode geweiht ist, den Patienten und seine Angehörigen bei allen Aufgaben des täglichen Lebens zu unterstützen. Das komplexe Tätigkeitsfeld der Pflege geht dabei weit über die Grundpflege oder das Verabreichen ärztlich angeordneter Medikamente hinaus.


Pflegen kann doch jeder - oder nicht? 

Bei der Diagnose Alzheimer beispielsweise gerät die moderne Medizin auch im einundzwanzigsten Jahrhundert schnell an ihre Grenzen. Zwar gibt es Medikamente, die den Krankheitsverlauf verzögern können, eine Heilung ist bis zum heutigen Zeitpunkt jedoch nicht möglich. Demenzielle Erkrankungen und alle damit einhergehenden Problemstellungen fallen danach klassischerweise in den Bereich der Pflege. Im Vordergrund der Erkrankung steht dabei der zunehmende Rückgang kognitiver Fähigkeiten, was zu einem Verlust der Persönlichkeit führt. Einher geht der Verlust mit aggressivem Verhalten, einer starken Tendenz zum Weglaufen bis hin zum Spielen mit den eigenen Fäkalien.

Die Herausforderungen, die das Krankheitsbild an die Pflegepersonen stellt sind immens und fordern das höchste Maß pflegerischer Kompetenz. Der Umgang mit den Betroffenen Personen setzt voraus, dass der Pflegende über die verschiedenen Phasen der Erkrankung Bescheid weiß und entsprechend der Bedürfnisse adäquat handelt. Auch wenn der Prozess damit nicht aufgehalten werden kann, ist es möglich die Symptome ohne den Einsatz von Psychopharmaka zu lindern, die Weglauftendenzen zu minimieren und durch reaktive Pflege den geistigen Rückzug zu verzögern. Die Konzepte dafür sind durch Pflegewissenschaftler auf nationaler wie auch internationaler Ebene entwickelt worden und werden in der Ausbildung gelehrt. Ein professioneller Umgang mit der Erkrankung ist sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich also, zumindest aus pflegerischer Sicht, durchaus möglich.


Endstation Pflegeheim 

Da viele ein Pflegeheim entweder nur als letzten Ausweg sehen, sich die Kosten nicht leisten können oder den Wunsch haben so lange wie möglich in den eignen Wänden zu wohnen, werden 2/3 der Pflegebedürftigen von ihren Angehörigen betreut. Durch die reformierte Familienpflegezeit und Familienpflegezeit  lässt sich die Krankheit gerade im ersten Drittel auch den Umständen entsprechend gut auffangen. Problematisch wird die Pflege meist erst im zweiten Drittel der Erkrankung, die von akuter Verwirrtheit und Aggressivität gekennzeichnet ist. Gerade in diesem Stadium wäre professionelle Unterstützung wichtig, sowohl für den Dementen als auch für den Pflegenden. Mit den bis zu 200€ aus der Pflegestufe 0 lässt sich ein professioneller Pflegedienst allerdings nicht bzw. nicht in ausreichender Form finanzieren, sodass er eine qualifizierte Betreuungsleistung erbringen könnte. Die steigende emotionale Belastung und die immer größer werdende Angst vor Eigengefährdung, veranlasst schließlich viele Betroffenen dazu sich Hilfe bei Vermittlungsagenturen für osteuropäische Haushaltshilfen zu suchen. Obwohl dieser Weg durchaus nachvollziehbar ist, muss klar sein, dass fremde Menschen, welche darüber hinaus häufig nicht der deutschen Sprache mächtig sind, den Krankheitsverlauf in den meisten Fällen rapide verschlechtern, was sich unter anderem in vermehrten Klinikeinweisungen zeigt. Völlig an den Grenzen der Belastbarkeit, ausgebrannt und begleitet von einem schlechten Gewissen entscheiden sich die Familien irgendwann dann doch dafür, ihren Angehörigen in einem Pflegeheim unterzubringen.


Pflege zwischen Anspruch und Wirklichkeit 

Bereits seit den 70ern kursieren Horrormeldungen über die Zustände in Pflegeheimen durch die Medien. Von festgebundenen, ruhiggestellten, geschlagenen oder gar getöteten Bewohnern in Pflegeheimen ist in regelmäßigen Abständen die Rede. Dem entgegen stehen die hervorragenden Ergebnisse der von den Landesverbänden der Pflegekassen veröffentlichten Transparenzberichte zur Qualität in der Pflege. Was aber entspricht nun der Wahrheit?

Wer nicht der Pflegebranche angehört, ist zurecht verunsichert, wenn es darum geht, ob sein Angehöriger in einer stationären Einrichtung wirklich gut aufgehoben ist. Aber was leistet ein Pflegeheim eigentlich im Umgang mit Bewohnern, die an Demenz erkrankt sind und was heißt eigentlich gute Pflege?

Das Kernproblem dieser Frage ist, dass die Antwort davon abhängt, wem man sie stellt. Professionell Pflegende, Pflegewissenschaftler oder Vertreter der Pflege haben ein völlig anderes Verständnis davon als die Kranken- bzw. Pflegekasse, Vorstände von Pflegeheimen oder gar Politiker. Diese aber sind es die darüber entscheiden, ob jemand pflegebedürftig ist, wie hoch die Leistungsansprüche sind, wie viel Zeit pflegerische Tätigkeiten beanspruchen dürfen, welche Ausbildung zur Ausübung notwendig ist, wie der Personalschlüssel in einem Pflegeheim ist usw. Eine völlig absurde Situation, die in der oben beschriebenen Diskrepanz ihren Höhepunkt findet und das Bild der Pflege in der Öffentlichkeit weiter verzerrt.

Denn vernachlässigte Bewohner, mangelnde Hygiene in Einrichtungen oder Pflegefehler in den seltensten Fällen auf die schlechte Qualifikation der Mitarbeiter zurückzuführen, als vielmehr auf die Unfähigkeit der Politik tragfähige Lösungen im Sinne der Pflegebranche zu treffen. Böse Zungen würden behaupten, das könne man von den Entscheidungsträgern aber auch nicht erwarten, schließlich haben diese erstens wahrscheinlich nie in ihrem Leben einen pflegebedürftigen Menschen selbst versorgt und zweitens werden diese wohl auch nie in die Verlegenheit kommen im Alter in ein „normales" Pflegeheim ziehen zu müssen. Wie auch sonst lässt sich erklären, dass ein Heimgesetz zur Überprüfung der Pflegequalität erlassen wird, dessen Prüfer dem Verwaltungsdienst angehören mit Prüfnoten des MDK eine gute Pflege in Deutschland propagiert, dabei aber verschwiegen wird, dass es sich hier um ein System handelt, welches sich selbst prüft, acht Jahre, nachdem im Koalitionsvertrag die Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs verankert wurde, keine Erneuerung dessen erfolgt ist, Studien über Studien in Auftrag gegeben werden ohne deren Ergebnisse, sinnvoll in politische Entscheidungen einfließen zu, dem Vorschlag aus 2006, Prostituierte, aufgrund ihrer Fähigkeit kaum Ekelgefühl zu empfinden, in den Pflegeberuf zu rekrutieren, die Idee folgt Langzeitarbeitslose für die Betreuung von Dementen einzusetzen,

um nur einige teilweise skurrile Beispiele zu nennen, die die Vermutung nahe legen, dass monetäre Interessen über die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen gestellt werden.


Zeit für wahre Experten 

Um das pflegerische Versorgungssystem in Deutschland auf gesunde Füße zu stellen, ist es an der Zeit, denjenigen das Ruder zu überlassen, die auch wirklich etwas von ihrem Fach verstehen. Pflege ist schon lange kein dienender Helferberuf, welcher der Führung durch die Medizin, Politik oder sonstiger Experten bedarf. Die Branche etabliert kontinuierlich eine eigene Wissenschaft und hat sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass die grundständige Ausbildung auf Hochschulniveau angehoben wird. Darüber hinaus gibt es Expertenstandards und Pflegemodelle die, wenn sie richtig implementiert werden, einen hohen pflegerischen Qualitätsstandard bieten. Aber auch zu berufspolitischen Fragen, einem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff oder aber zur Feststellung des Pflegebedarfs liegen umfassende, in Zusammenarbeit mit Pflegewissenschaftlern entwickelte, Konzepte vor. Solange die Politik aber durch Worte und nicht durch Taten glänzt, sieht es auch in Zukunft nicht gut aus für die Pflegebranche.



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