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Social Reading - neue Möglichkeiten für wissenschaftliche Diskurse

Die Veränderungen des Web 2.0 als Social Web wirken sich in Aspekten wie Networking, Wissensmanagement und Projektkoordination zunehmend auch über den sozialen Bereich hinaus auf die Arbeit in der Wissenschaft aus. So kann u.a. der wissenschaftliche Diskurs mit Studenten oder zwischen Kollegen auf vielfältige Weise angeregt werden. Das sogenannte Social Reading ist eine von vielen Facetten, die derzeit vorrangig noch privat genutzt werden, aber zahlreiche Möglichkeiten für neue Lernmethoden auch an den Universitäten bieten und eng mit den multimedialen Anreicherungen von E-Books sowie mit Bücher-Netzwerken verknüpft.


the networked book

"Ein Gespenst geht um im Bücherland. Wo einst verdorrtes Einzelgängertum und verknöchertes inneres Exil herrschte, da entdeckt der solitär sozialisierte Leser nun seine gemeinschaftliche Ader." ( Alexander Vieß) Vor der digitalen Welt unterhielt man sich über Bücher von Angesicht zu Angesicht, sei es mit Freunden oder Kollegen, in Buchclubs, auf Tagungen oder im Universitätsseminar. Dafür wurde Pflichtlektüre festgelegt, Notizen angefertigt, Termine ausgemacht. Ihren Weg ins Netz fanden Bücher schnell in Form von Buchblogs und auch von Büchernetzwerken. Es entwickelte sich die Möglichkeit, Bücher schon vor dem Kauf leicht einschätzen und danach mit Fremden - aber dennoch Gleichgesinnten - über sie diskutieren zu können. Seiten wie Goodreads oder Lovelybooks verzeichnen Millionen von Mitgliedern weltweit. Interessant sind diese Plattformen für Leser und Autoren, Verlage und Buchhändler, für die sie neben Informationen zur Konkurrenz vor allem unzählige Daten zum Leseverhalten der Nutzer bereithalten. Nicht umsonst war es ein kleiner Skandal, als Ende März bekannt wurde, dass Goodreads als das weltweit größte Büchernetzwerk von Amazon aufgekauft werden soll. Mit dem Social Web verlieren Bücher keinesfalls ihre Bedeutung, die leichte Auffindbarkeit von Informationen kann das Abenteuer eines Buches nicht ersetzen - zumal sich die Publikationsmöglichkeiten von E-Books im Selbstverlag stark vereinfacht haben und sich nun für jeden Autor die Möglichkeit ergibt, sein Wunschpublikum zu erreichen.


Auch wenn E-Books in Deutschland noch längst nicht die rekordverdächtigen Verkaufszahlen der USA erreicht haben und die Deutschen ihre goethesche Liebe zum gedruckten Buch beibehalten, steigen die Verkäufe doch stark an und haben vor allem im Online-Buchhandel immerhin bereits die 10%-Marke erreicht. Bisher werden die Möglichkeiten eines E-Book, die weit über die digitale Version eines Textes hinausgehen, jedoch noch nicht in vollem Umfang genutzt und die Leser sind vorrangig interessiert an Belletristik und populärwissenschaftlicher Literatur. Doch auch für fachwissenschaftliche Bücher wird, vor allem in Form von Apps, daran gearbeitet, neue Diskussionsformen möglich zu machen. Natürlich kann jeder Student und jeder Wissenschaftler auf einer entsprechenden Plattform eine Rezension eines Buches veröffentlichen - im Bereich Geschichte sprießen dementsprechend bereits eine Reihe von Online-Rezensionszeitschriften aus dem Boden. Dies beinhaltet jedoch keineswegs den sozialen Aspekt, wie er das Web 2.0 andernorts kennzeichnet.


Die Angst vor OpenPublishing

Derzeit sind es vor allem Fachzeitschriften, die man als digitale Ausgabe im Internet aufspüren und Lesen kann - zumindest, wenn man die entsprechenden Magazine abonniert oder über Universitätszugehörigkeit Zugang zu ihnen hat. Das E-Book dagegen bleibt noch vor den Türen der Universitäten und Forschungseinrichtungen, zumindest wenn man einen Text im PDF-Format nicht als E-Book bezeichnen möchte. Dabei kann es auch für einen Fachmann ungemein einfach sein, eine neue Fachpublikation, angereichert mit Grafiken, Tafeln und Statistiken, per E-Book-Reader auf Reisen zu lesen, sich an der entsprechenden Stelle Notizen zu machen und diese später am Rechner in den eigenen Forschungsdiskurs einzubinden. Das Problem: nur wenige Publikationen sind überhaupt in tatsächlichen E-Book-Formaten verfügbar. Dies hängt eng mit der anscheinend eingeschränkten Zitierbarkeit von E-Books zusammen, bei denen sich durch Zoom-Möglichkeiten die Seitenformate verschieben und Seitenzahlen demzufolge nicht mehr fest zuordenbar sind. Abhilfe können hier zitierbare, weil feste und nummerierte Absatzmarkierungen schaffen, deren Technik jedoch noch einiger Verfeinerungen bedarf. Hinzu kommt die Angst der Verlage vor der Weitergabe von E-Books unter Freunden und Kollegen, d.h. vor dem damit einhergehenden wirtschaftlichen Schaden. Trotz intensiver Arbeit am Digital Rights Management (DRM) fehlen derzeit noch die rechtlichen und technischen Möglichkeiten, um dem vorbeugen zu können, ohne die Nutzbarkeit zu stark einzuschränken. Sollte für diese vor allem im Urheberrecht bedingten Probleme jedoch eine Lösung gefunden sein, stehen der wissenschaftlichen Nutzung des Social Reading alle Möglichkeiten offen, die es für den privaten Bereich schon bereit hält.


Derzeit eröffnet vor allem Readmill viele neue, vielfältig nutzbare Ideen. Readmills Basis ist ein Online-Netzwerk, in dem man über einen Account Kontakt mit anderen Nutzern aufnehmen, Buchrezensionen veröffentlichen und sich über Neuerscheinungen informieren kann. Darüber hinaus bietet Readmill eine spezielle Lese-App, wenn im Moment auch nur für Tablets, mit der man Wörter oder Abschnitte kommentieren und diese Kommentare im Netz publizieren kann. Leider sind bisher weder Diskussionen in größerem Umfang direkt über die App noch die Einbindung von Lesegruppen möglich. Was ebenfalls noch fehlt, sind direkte Verbindungen zu anderen Büchern, Querverweise und Rekontextualisierung. Zudem sind auch die meisten E-Books noch nicht semantisch erschlossen, was thematische Diskussionen über ein Buch hinaus bisher erschwert. Damit beschäftigt sich auch das Institute for the Future of the Book, das darum bemüht ist, mit den Möglichkeiten des Web 2.0 die Zukunft des Buches neu zu gestalten und die Grenzen von Autor, Leser und Kommentator/Interpret zu verwischen.


Scientific Reading

Genau an dieser scheinen nun aber die besten Möglichkeiten des Social Reading für die Wissenschaft verwurzelt zu sein: Bücher und Thesen, die in einem entsprechenden Format zugänglich gemacht wurden, könnten in geschlossenen Lesezirkeln, also in Seminargruppen, unter Projektpartnern u.ä., im Vorab gelesen und mit Notizen ergänzt werden, sodann ausführlich diskutiert und in die aktuelle Forschung oder Fragestellungen eingebunden. Der Autor selbst kann ebenfalls teilhaben, oder, wie es Petra von Cronenburg formulierte: "Beim herkömmlichen Bücherschreiben sind die storyteller noch Schöpfergottheiten in einem elfenbeinernen Olymp [...] Die storyteller von heute steigen vom Olymp herab, um gemeinsam mit den Sterblichen am Lagerfeuer Geschichten zu ersinnen und zu erleben." Gerade in Hochschulseminaren, die in meiner Studienzeit meist überfüllt und leider zu oft von mehr oder weniger schlechten Referaten und wenig tiefgehenden Diskussionen geprägt waren, könnte eine solche Lesegruppe als Basis für fruchtbarere Ergebnisse bei Dozenten und Studenten dienen. Das Projekt eComma der University of Austin ist einer der Vorreiter, wenn es darum geht, Social Reading und Scientific Reading zu verbinden. Hinzu kommen die Speichermöglichkeiten solcher online geführter Diskussionen, durch die sich die Etappen einer Diskussion - die selbst wissenschaftlich interessant sein können - auch später immer wieder nachvollziehen lassen.


Erleichtert wird dies durch die Sonderbestimmungen des Urheberrechts für Forschung und Lehre (§52 UrhG), nach denen Publikationen für den angegebenen Zweck vervielfältigt und auch ins Netz gestellt werden dürfen. Jedoch ist dabei noch unklar, in welchem Umfang dies geschehen darf, inwieweit die Texte verändert und weitergenutzt werden dürfen. Auch hier wäre eine Einbindung des Autors/Forschers demnach sinnvoll. Ähnlich nutzbar ist eine App wie Readmill für Peer-Review-Auswahlverfahren, als Vorbereitung für Tagungen oder für die Projektplanung. Überall dort, wo über wissenschaftliche Publikationen diskutiert wird, bietet das Social Reading die Option, Vorbereitungen zu erleichtern und alle Teilnehmer auf einen gemeinsamen Stand zu bringen bzw. sich auf einen gemeinsamen Weg zu einigen. Zudem können auch Plagiate leichter aufgedeckt und Mehrfachpublikationen desselben Sachverhaltes vorgebeugt werden.


Auch darüber hinaus, in der Diskussion mit der Öffentlichkeit, ergeben sich neue Möglichkeiten. Anstatt Forschungsergebnisse schlicht präsentiert zu bekommen, werden interessierte und auch kritische Nachfragen ermöglicht, Wissenschaftler können sich direkt äußern und befruchtende Diskussionen für beide Seiten führen. Ähnlich wie im Fall von Fachblogs, bei denen mit Kommentaren noch meist zurückhaltend umgegangen wird, müssen sich auch hier Wissenschaft und Technik aneinander herantasten und die gegenseitigen Prinzipien beschnuppern, bevor eine effektive Zusammenarbeit zustande kommen kann.

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