Kinder spielen die brutale Netflix-Serie "Squid Game" nach. Es ist nicht die erste Reihe, die ihren Weg in das Leben junger Menschen findet.
Die Netflix-Serie "Squid Game" polarisiert. Viele loben die Produktion aus Südkorea für ihre Gesellschaftskritik. Andere beanstanden die zur Schau gestellte Brutalität. Es sei ein regelrechter "Gewaltporno", behaupten Kritiker. Viel diskutiert ist die Produktion auch wegen ihres Erfolgs: Vier Wochen nach dem Start wurde sie von 142 Millionen Nutzerkonten aus angesehen - der bislang erfolgreichste Start einer Netflix-Serie.
In den vergangenen Wochen zeigte sich, dass auch Kinder und Jugendliche Gefallen an der Serie finden - obwohl sie erst ab 16 Jahren freigegeben ist. Mancherorts spielten die jungen Menschen die Handlung auf Schulhöfen nach. Lehrer und Eltern beunruhigt dieser Trend. Denn dabei kommt es immer wieder zu körperlichen Auseinandersetzungen.
"Squid Game" erzählt die Geschichte von 456 Menschen, die in mehreren Kinderspielen gegeneinander antreten - und getötet werden, sobald sie verlieren. Die Kinderspiele aus der Serie werden derzeit etwa in Belgien, Schweden, Italien, Deutschland und den Vereinigten Arabischen Emiraten von Kindern nachgeahmt. Das Problem sind aber nicht die Spiele selbst, sondern die an die Serie angelehnten Folgen für die Verlierer. An einer Schule in Erquelinnes, Belgien, sollen die Verlierer regelrecht verprügelt worden sein. In Augsburg haben sich Kinder im Zuge der Spiele gegenseitig Ohrfeigen gegeben, wie der Bayerische Rundfunk berichtet.
Dass "Squid Game" vor allem bei jungen Menschen derart beliebt ist, lässt sich laut der Salzburger Kommunikationswissenschafterin Ingrid Paus-Hasebrink durch den Nervenkitzel erklären, der entsteht, sobald man die Serie anschaut: "Solche Geschichten machen neugierig - und die Jugend ist die Zeit des Ausprobierens. Deswegen haben sie einen großen Reiz", erläutert sie. Warum nicht alle spannenden oder gewalttätigen Produktionen einen derartigen Rummel auslösten, ließe sich nicht ohne Weiteres beantworten. Wie und in welchem Rahmen Werbung für Serien oder Filme gemacht würde, spiele aber eine Rolle. Ob diese dann gut bei Kindern ankämen, hinge zudem häufig vom Freundeskreis und dem sozialen Umfeld ab. Den Eltern empfiehlt Paus-Hasebrink deshalb, bei der Einordnung solcher Produktionen zu unterstützen: "Kinder sind für Serien wie diese sehr empfänglich. Und das sollte man ernst nehmen."
Auch der Kinder- und Jugendpsychologe am Uni-Klinikum Salzburg, Kornelius Winds, rät zu Prävention und Aufklärung, um gefährlichen Trends aus Filmen, Serien und sozialen Netzwerken entgegenzuwirken. Insbesondere an Schulen seien entsprechende Projekte wichtig. Darin sollte über den adäquaten Umgang mit Medien aufgeklärt werden. Auch technische Beschränkungen wie Altersfreigaben seien sinnvoll. Grundsätzliche Verbote sehe er indes kritisch. Diese könnten im schlimmsten Fall zu Ausgrenzungen aus dem Freundeskreis führen: "Ich würde hier eher zur Informationsvermittlung raten."
Winds erinnert daran, dass solche Medientrends kein neuartiges Phänomen seien. Viele Nachahmungen - etwa Trends in und aus sozialen Netzwerken - bekäme man aber kaum mit, da sie nicht mit brutalen Produktionen im Zusammenhang stünden. Doch auch gefährliche Nachahmungen habe es bereits gegeben. Ein Beispiel dafür sei die Serie "Tote Mädchen lügen nicht" aus dem Jahr 2017, in der das Thema Selbstmord im Vordergrund steht. Psychologen warnten damals vor Nachahmungstaten. Tatsächlich stieg die Suizidrate in den USA in dem Monat nach Veröffentlichung der Serie um fast 29 Prozent - wenngleich ein unmittelbarer Zusammenhang in vielen Fällen freilich schwer herzustellen ist. Aber auch Google-Suchanfragen, die sich mit den Möglichkeiten des Suizids beschäftigten, nahmen in dieser Zeit zu. In der Forschung wird dieser Nachahmungseffekt bei Suizid als Werther-Effekt bezeichnet - in Anlehnung an Goethes Roman "Die Leiden des jungen Werthers". Seinerzeit löste das Werk einen Anstieg an Selbstmorden aus.
Auch wenn es sich sowohl bei "Squid Game" als auch bei "Tote Mädchen lügen nicht" um Nachahmungstaten handelt, die durch Serien ausgelöst wurden, warnt Psychologe Martin Plöderl vor einem direkten Vergleich: "Bei der Nachahmung von ,Squid Game' steht der Spiel- und Lustcharakter im Vordergrund. Das ist bei Suiziden nicht so", sagt er. Beim Werther-Effekt würden Charaktere aus Geschichten zu Vorbildern für junge Menschen mit psychischen Problemen. Dies könne den Impuls geben, sich auch das Leben zu nehmen.
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