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Haiti: Meuchelmord im Chaosstaat - und die Folgen

Haiti Meuchelmord im Chaosstaat - und die Folgen

Nach der Ermordung von Staatschef Jovenel Moïse ist Haiti in Aufruhr. Wer gab den Auftrag zu der Tat, aus welchem Motiv? Viele im Land rufen jetzt nach der alten Schutzmacht USA, doch Washington zögert.

Als die Haitianer am Samstag erwachten, hatte sich die Zahl der Politiker wundersam vermehrt, die jetzt die Führung ihres Landes beanspruchen.

Am Freitagabend wurde der Vorsitzende des Senats, Joseph Lambert, zum Übergangspräsidenten gewählt. Die verbliebenen zehn der ursprünglich einmal 30 Senatoren bestimmten Lambert zum Nachfolger des am Mittwoch ermordeten Staatschefs Jovenel Moïse. Bindend ist die Entscheidung aber nicht, denn der Senat ist seit mehreren Jahren nicht mehr beschlussfähig. Allerdings sind die zehn Senatoren die einzigen in Haiti noch amtierenden gewählten Politiker.

Das Mandat der Nationalversammlung ist abgelaufen, der Präsident erschossen und der Vorsitzende des Obersten Gerichts gerade an Covid gestorben.

Lambert ist neben dem eigentlich zurückgetretenen, aber jetzt doch die Macht beanspruchenden Premierminister Claude Joseph und dem ernannten, aber nicht eingesetzten Ariel Henry der dritte Politiker, der die karibische Chaosrepublik führen will. Aber keiner der drei hat wirklich Legitimität, keiner der drei kann auf breite Unterstützung in der Bevölkerung oder Ansehen bei der internationalen Gemeinschaft bauen. Höchstens Joseph, der die Führung des Landes nach dem Mord an Moïse am Mittwoch in der Verwirrung des Augenblicks einfach an sich nahm, wird von den Vereinten Nationen und den USA gestützt.

Drei Tage ist der Mord an dem umstrittenen haitianischen Staatschef jetzt her, aber das Chaos wird eher größer als kleiner. Zudem erwachen, nachdem sich der erste Schock gelegt hat, allmählich Unruhe und Wut in der Bevölkerung. Vertreter der Zivilgesellschaft wie der Filmemacher Arnold Antonin sagen, die Situation sei so verfahren und absurd, dass die Lösung nur in einer "außergewöhnlichen, nicht verfassungsmäßigen" Lösung gefunden werden könne. Haiti brauche "ein breites politisches Abkommen, das nicht unbedingt auf der Verfassung basiert, um die völlige politische Anarchie zu vermeiden", betont Antonin im Gespräch mit dem SPIEGEL.

So denkt auch der Politiker Leslie Voltaire, ein Mitglied von "Fanmi Lavalas", der Partei des früheren Präsidenten Bertrand Aristide. "Warum brauchen wir jetzt unbedingt einen Präsidenten, wir müssen diese tropische Tragödie in eine Chance umwandeln". Voltaire macht sich für eine Art Staatsrat stark, in dem Auslandshaitianer und Vertreter der Zivilgesellschaft sowie der Wirtschaft sitzen sollen, ergänzt um Menschenrechtsaktivisten und Repräsentanten des Bildungs- und Gesundheitssektors.

Derweil kommen immer mehr Details des nächtlichen Mordanschlags auf den 53-jährigen Moïse ans Licht, sie wirken wie eine Mischung aus lateinamerikanischer Räuberpistole und groß angelegtem Komplott, in das mindestens zwei Länder verwickelt sind.

Es war der Anruf einer Frau bei einem Radiosender in Kolumbien, der am Freitag wertvolle Hinweise darauf lieferte, was sich zwei Tage zuvor in der fernen Karibikrepublik Haiti abspielte, als Moïse im Schlaf von einem schwer bewaffneten Kommando mit zwölf Schüssen ermordet, seine Frau Martine schwer verwundet und seine Kinder traumatisiert wurden. Es war übrigens bereits der zweite Präsidentenmord in Haiti nach 1915. Damals wurde Staatschef Jean Vilbrun Guillaume ermordet, woraufhin die USA den Karibikstaat besetzten und 19 Jahre blieben.

Die Frau meldete sich also bei "W-Radio": "Ich bin die Gattin von Francisco Eladio Uribe". Uribe gehört zu der Gruppe von 15 Männern, allesamt kolumbianische Ex-Militärs, die von der haitianischen Regierung als mutmaßliche Mitglieder des Killerkommandos präsentiert wurden.

Ihr Mann sei offenbar für die Tat rekrutiert worden, ohne zu wissen, was Ort und Ziel des Einsatzes sei. "Es hieß nur, sie sollten die Familien von Scheichs beschützen". Uribe ist ein ehemaliger Militär, der infolge des Friedensabkommens mit den Linksrebellen FARC Ende 2016 abgemustert habe und sich seither als eine Art freiberuflicher Söldner verdingt. So wie Tausende von anderen ehemaligen kolumbianischen Militärs auch. Der Lohn soll bei rund 2700 US-Dollar monatlich gelegen haben.

Die Polizei in dem südamerikanischen Land bestätigte, dass die festgesetzten Männer zwischen Mai und Juni in kleinen Gruppen in die Dominikanische Republik ausgereist seien und von dort zum Teil per Luft und auf dem Landweg nach Haiti weiterreisten.

So unvollständig die Aussage von Uribes Frau ist, so wertvoll könnte sich dieses Puzzleteil erweisen beim Zusammensetzen des Bildes, was sich in der Nacht zum Mittwoch in Port-au-Prince abgespielt hat.

Allerdings bleibt nach wie vor völlig unklar, wer die Killer angeheuert hat und warum. War es die kolumbianische Drogenmafia, war es "die Oligarchie" in Haiti, waren es die politischen Gegner oder Regierungsmitglieder? Es gibt derzeit jedenfalls wesentlich mehr Fragen als Antworten in Haiti.

Fraglich ist auch, wie es möglich war, die Angreifer so einfach und schnell festzusetzen. Ein Land, in dem kaum eine Institution funktioniert, war bei der Ergreifung sehr effektiv. Angeblich versteckten sich die Kolumbianer auf dem Gelände der taiwanischen Botschaft in der Hauptstadt Port-au-Prince.

Der haitianische Filmemacher und Aktivist Antonin sieht gleich viele mögliche Hintermänner des Attentats. "Der Präsident hatte sich mit sehr vielen im Land überworfen, darunter Teilen seiner Partei, der Polizei, einigen der Dutzenden Gangs und natürlich mit dem Premierminister Claude Joseph". Klar ist nur, dass das Attentat lediglich von jemandem mit viel Geld und noch mehr Einfluss organisiert werden konnte.

Die karibische Republik hatte in 35 Jahren 20 Regierungen, und die Menschen haben in diesen Jahren Diktaturen und Staatsstreiche ebenso erlebt wie abgesetzte und geflüchtete Präsidenten und vom Ausland eingesetzte Staatschefs. "Aber selbst für ein Land wie Haiti ist eine solche Tat außergewöhnlich und besorgniserregend", sagt Robert Fatton von der Universität von Virginia in den USA. "Aus politischer Sicht gibt es niemanden, der daraus Nutzen zieht", unterstreicht der in Haiti geborene Fatton in der BBC. Weder die Dutzenden Banden oder die Opposition noch Teile der Regierung. Niemand profitiere von noch mehr Chaos, noch mehr Unsicherheit, Gewalt und einer möglichen neuen ausländischen Intervention in dem Inselstaat.

Genau diese aber forderte jetzt ein Minister der alten Regierung: Mathias Pierre, Ressortchef für Wahlangelegenheiten. Er machte sich für die Entsendung von US- und Uno-Truppen stark. Sie sollten die Sicherung von Häfen, Flughäfen und anderen strategischen Einrichtungen übernehmen. Die Regierung in Washington lehnte über einen hochrangigen Sprecher dieses Anliegen vorerst ab und betonte, dass lediglich Ermittler der Bundespolizei FBI zur Unterstützung der Mordermittlungen nach Haiti reisten.

Die Uno-Gesandte für Haiti, Helen La Lime, betonte vor Tagen, der jetzt amtierende Premier Joseph solle bis zur Abhaltung von Neuwahlen im Amt bleiben. Auch die USA als traditionelle Schutzmacht für Haiti machen sich für Wahlen als "Übergang zu einer friedlichen Machtübergabe" stark. Joseph betonte, dass er bei diesen Wahlen nicht antreten werde. "Ich bin hier nicht für lange. "Wir brauchen Wahlen, aber ich habe dabei keine persönliche Agenda".

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