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Mexiko: Gewalt, Kartelle und Corona - Der Staat versagt

Mexikos Präsident Manuel López Obrador will mit sozialen Projekten Kartelle zurückdrängen. Nach zwei Jahren Regierung schwindet aber die Hoffnung.

Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador wollte der hohen Kriminalität im Land ein Ende setzen. Inzwischen gilt es als unwahrscheinlich, dass ihm das in Mexiko gelingt. Das Organisierte Verbrechen und die Corona-Pandemiefordern täglich hunderte Tote.

Mexiko-Stadt ‒ In diesen Tagen erinnern sich viele Mexikaner an einen Satz ihres Schriftstellers Octavio Paz. „Morir y matar son ideas que pocas veces nos abandonan". „Sterben und Töten sind Ideen, die uns selten verlassen". Diese Charakterisierung von Land und Leuten schrieb Paz 1950 in dem Essay „Das Labyrinth der Einsamkeit". Über siebzig Jahre später hat der Satz mehr Gültigkeit denn je.

Das zweitgrößte Land Lateinamerikas befindet sich in einer gespenstischen Dynamik von Töten und Sterben. Covid-19 hat mehr als 175 000 Menschen dahingerafft - nur die USA und Brasilien verzeichnen mehr Tote. Die Pandemie-Opfer haben sogar vorübergehend diejenigen in den Hintergrund gedrängt, die täglich der Gewalt des Organisierten Verbrechens zum Opfer fallen.

Mexiko: Präsident López Obrador wollte das Organisierte Verbrechen beenden

Dabei wurde der seit gut zwei Jahren amtierende Präsident Andrés Manuel López Obrador vor allem deshalb gewählt, weil er im Wahlkampf ein Ende der Gewalt versprach. „Abrazos, no balazos" - auf diese knappe, wie naive Formel hatte er seine Strategie gegen das Organisierte Verbrechen runtergebrochen. „Umarmungen, keine Kugeln" - so sollte den Kartellen nach Jahren der fruchtlosen militärischen Konfrontation durch die Vorgängerregierungen der Wind aus den Segeln genommen und die ungeheuerliche Zahl von fast 100 Morden pro Tag reduziert werden.

Stipendien, erhöhte Bildungsausgaben, eine Amnestie für Mitläufer und die Schaffung der „Guardia Nacional" einer neuen, sauberen Polizei, waren die elementaren Bestandteile dieser Politik. Aber die Projekte blieben halbherzig oder wurden klammheimlich wieder zu den Akten gelegt. Und die neue „Nationalgarde" wird fast ausschließlich zur Sicherung der Grenzen im Süden und Norden eingesetzt.

Kritik an Mexikos Präsident ‒ „[Er] setzt auf die gleiche Militarisierung"

Kritische Stimmen werfen dem linksnationalistischen Staatschef vor, dass sich die Veränderungen in Rhetorik erschöpfen und er die Umsetzung seiner Versprechen aus dem in funktionierende Initiativen schuldig geblieben ist.

Er behauptet, sich in der Sicherheitspolitik von seinen Vorgängern Felipe Calderón (2006 bis 2012) und Enrique Peña Nieto (2012 bis 2018) abzugrenzen. „Aber er begeht dieselben Fehler und setzt auf die gleiche Militarisierung ", kritisiert der Politologe Nathaniel Parish. So sei die Rolle der Streitkräfte unter López Obrador eher noch gewachsen, und die Militärs werden weiter gegen die Kartelle eingesetzt.

Mexiko: Es bestehen mutmaßliche Allianzen zwischen Kartellen und Polizei

Laut Zahlen der Sicherheitsbehörden wurden vergangenes Jahr 34 523 Menschen ermordet. Dabei verlieren vor allem Pistoleros im Kampf der Kartelle untereinander ihr Leben und werden bei Gefechten mit den Sicherheitskräften getötet. Aber immer öfter geraten Unschuldige ins Kreuzfeuer, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Und in Mexiko es werden zunehmend Menschen ermordet, die Dinge verändern wollen, wie der Umweltschützer Fidel Heras, der Ende Januar im Bundesstaat Oaxaca getötet wurde oder der Menschenrechtsaktivist Arnulfo Cerón im Bundesstaat Guerrero, der besonders von den Mafias gebeutelt ist.

Cerón von der „Frente Popular de la Montaña" wurde ersten Ermittlungen zufolge vom Organisierten Verbrechen getötet, in Auftrag aber gab die Tat ein führender Lokalpolitiker. Besonderes Schaudern löste kürzlich das Massaker an 19 Flüchtlingen in Tamaulipas, an der Grenze zu den USA aus. Die Menschen wurden ersten Ermittlungen zufolge mutmaßlich von einer Allianz aus einem lokalen Kartell und Polizisten hingerichtet, vermutlich weil ihre Verwandten kein Lösegeld zahlen konnten.

Mexiko ‒ ein in „Teilen gekaperter Staat" wegen Korruption und Unterwanderung

Mexiko, G-20-Staat, formell eine der größten Demokratien der Welt, hat Gewaltzahlen und Strukturen von Staatsversagen, die selbst die südamerikanischen Diktaturen der 1970-er Jahre in den Schatten stellen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Unfähige Präsidenten, ineffiziente Polizei, annähernd völlige Straflosigkeit für die Täter. Aber vor allem auch die Korruption und Unterwanderung des Staates, die bis tief in die Sicherheitskräfte, die Justiz und die lokalen sowie bundesstaatlichen Regierungen reicht.

Mexiko sei ein in „Teilen gekaperter Staat", unterstreicht Edgardo Buscaglia, Kriminalitätsexperte und Dozent an der New Yorker Columbia-Universität. Das Organisierte Verbrechen habe die Leerstellen besetzt, die der Staat ließ. Und die Mafias hätten sich längst zu multinationalen Großunternehmen entwickelt, die schon lange nicht mehr nur Rauschgift schmuggeln.

Letztlich spielen natürlich auch Armut und Perspektivlosigkeit eine Rolle. Wenn der „Narco", das Organisierte Verbrechen, jungen Männern viel Geld für Schmuggel und Entführungen biete, könne Präsident López Obrador mit seinen Stipendien für junge Mexikaner nicht mithalten, betont der Schriftsteller Antonio Ortuño.

Mexikaner leiden unter Coronapandemie und Mafia

Und so sicher wie die Corona-Pandemie irgendwann auch Mexiko aus ihrem Griff entlässt, so sicher werden die Mafias bleiben und weiter um Routen und Reviere ringen, um Rauschgift, Avocados, Silber und Benzin, um Migrantinnen und Migranten, Hoheitsgebiete und auch um politische und polizeiliche Protektion.

Längst ist klar, dass diesem gigantischen und alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringenden Problem nur mit dem Einsatz von staatlicher Gewalt nicht beizukommen ist. Das mussten die Präsidenten Calderón und Peña Nieto und vor allem schmerzhaft die Bevölkerung erfahren. Und López Obradors alternativer Ansatz zeigt bisher kaum Wirkung. Vergangenes Jahr wurden gerade einmal 125 Menschen weniger ermordet als im Jahr des traurigen Todesrekords 2019. Zudem ist die Idee, durch Sozialprogramme der Prävention gegenüber der Repression stärken zu wollen, zwar smart, aber nicht ausreichend.

Mexikos Präsident feiert sich für seinen Erfolg ‒ Jedoch nur geringer Rückgang an Todesopfern

Dennoch feiert der Linke den minimalen Rückgang der Opferzahlen wie eine Trendwende und den Erfolg seiner Politik: „Meine objektive Bilanz ist, positiv. Es fehlt noch viel, aber es gibt bedeutende Fortschritte". Es gäbe keinen Präsidenten auf der Welt, der sich intensiver um das Problem von Gewalt und Unsicherheit kümmere, als er das in Mexiko tue, behauptet López Obrador.

Antonio Ortuño ärgert die präsidiale Selbstgerechtigkeit: „Erstens können wir den staatlichen Statistiken kaum trauen, zweitens muss es eine deutliche Verringerung geben, damit man von einer Verbesserung reden kann," sagt der Schriftsteller, der in seinen Büchern immer wieder über die Facetten des Terrors in Mexiko schreibt.

Zudem würde der Präsident die Dimension des Problems minimieren. „Als er selber in der Opposition war, hat López Obrador zurecht ständig die Regierungen kritisiert, aber jetzt tut er so, als habe er nichts mit dem zu tun, was da gerade passiert", kritisiert Ortuño. „Auch mit diesem Präsidenten bleiben wir Mexikaner uns selbst überlassen" und der Gewalt im Land hilflos ausgeliefert. Wie zum Beweis war dieser Tage Ortuños Heimatstadt Guadalajara Schauplatz von Schießereien am helllichten Tag in Restaurants und Privathäusern mit mehreren Toten sowie dem Auffinden von 18 Plastiksäcken mit Leichenteilen in der Nähe des Stadions des lokalen Fußballclubs Chivas. (Klaus Ehringfeld)

Rubriklistenbild: © Jair Cabrera Torres / dpa

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