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Polizeigewalt in Mexiko: Dein Feind und Folterer - SPIEGEL ONLINE

Die Geschichte, die Claudia Medina, 34, zu erzählen hat, ist so unglaublich wie alltäglich in Mexiko. Es ist die Erfahrung von unzähligen Unschuldigen, die in den vergangenen Jahren in die Hände der Sicherheitskräfte fielen, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Oder die wie Medina aufgegriffen wurden, weil Soldaten, Marineeinheiten oder die Bundespolizisten gerade unbedingt einen Schuldigen vorweisen mussten.

In der Schlacht mit den Drogenkartellen, in die Mexiko seit bald zehn Jahren alle uniformierten Kräfte wirft, wird selten zwischen Gut und Böse unterschieden. Und was Menschen droht, die einmal in die Fänge der Sicherheitskräfte geraten, beschreibt Claudia Medina so: "Marinesoldaten brachen um drei Uhr nachts in mein Haus in Veracruz ein, verbanden mir die Augen, fesselten mich und brachten mich auf einem Lastwagen zu einem Marinestützpunkt. Sie warfen mir vor, Waffen, Munition und Drogen zu besitzen, ich wurde des Rauschgifthandels und des Organisierten Verbrechens beschuldigt", erzählt die Mutter dreier Kinder, die homöopathische Arzneien vertreibt.

Dann folgte die Folter: Stromkabel an jedem Zeh, Stromstöße, laute Musik, um die Schreie zu übertönen, kaltes Wasser ins Gesicht, die Drohung einer Vergewaltigung. Am Morgen wurde die Frau an einen Stuhl gefesselt und Stunden in die sengende Sonne gesetzt. Sie musste eine Erklärung unterschreiben, die sie nicht lesen durfte. Noch am selben Tag wurde Medina den Medien gemeinsam mit fünf anderen Männern als gefährliche Kriminelle präsentiert. So schnell wird man in Mexiko zu einem Verbrecher. Und das nur, weil die Sicherheitskräfte in Veracruz nach dem Mord an mehreren Journalisten dringend Täter präsentieren mussten.

Folterer haben kaum etwas zu befürchten

Fälle wie der von Claudia Medina passieren nach Untersuchungen der Vereinten Nationen und diverser Menschenrechtsorganisationen jedes Jahr tausendfach in Mexiko. Auch " Amnesty International" erhebt jetzt in einer Untersuchung schwere Vorwürfe. Folter und Misshandlungen durch Militär- und Polizeikräfte seien an der Tagesordnung, heißt es in dem Bericht "Mexiko - Folter außer Kontrolle". Darin werden 20 ausgesuchte Fälle vorgestellt, die sich in den Details unterscheiden, sich aber in der Struktur gleichen. Polizei oder Militär erpressen mit Gewalt Geständnisse von Unschuldigen und machen sie so zu "presuntos culpables", zu "mutmaßlich Schuldigen".

In Justiz, Polizei und Militär herrsche Toleranz gegenüber Folter, stellt Amnesty fest. Die Täter gehen fast immer straffrei aus. Nur sieben Angeklagte seien in Mexiko je wegen Folter verurteilt worden.

In Mexiko könnten die staatlichen Sicherheitskräfte "zügellos" operieren wie in keinem anderen Land der Region, kritisiert auch der Kriminalitätsexperte Edgardo Buscaglia. Es gebe keine "effektive justizielle Kontrolle durch Staatsanwaltschaft oder Gerichte", ergänzt der Hochschullehrer und Präsident des "Instituto de Accion Ciudadana" in Mexiko-Stadt. "Folter ist in Mexiko heute so verbreitet wie im vergangenen Jahrhundert." Nach den Untersuchungen von Buscaglias Institut sind mindestens 70 Prozent der Festgenommenen irgendeiner Art von Misshandlung oder Folter ausgesetzt.

"Verbrecher, die sich hinter ihrer Uniform verstecken"

Die Untersuchung von AI listet Methoden der Misshandlung auf, die eher an die früheren südamerikanischen Diktaturen als an ein demokratisches Land erinnern. Festgenommene werden mit Gewehrkolben und Stöcken geprügelt, ihnen wird Wasser in die Nase gespritzt. Auch Elektroschocks, Todesdrohungen, simulierte Hinrichtungen und das Abschnüren der Luft mit Plastiktüten oder nassen Lappen gehörten zum Arsenal des Terrors.

Fast so erschreckend wie die Folterpraxis selbst ist die Gleichgültigkeit gegenüber diesen Menschrechtsverbrechen bis in höchste Regierungsstellen. Präsident Enrique Peña Nieto ignoriert regelmäßig Berichte von Menschenrechtsorganisationen oder Uno-Instanzen, die Übergriffe von Sicherheitskräften anprangern. Im Mai forderte der Uno-Sonderberichterstatter Juan Méndez nach einem Besuch in Mexiko die Regierung dringend zum Handeln auf. Aber nichts geschah.

Der Staatschef will Mexiko als ein Paradies für Investoren darstellen, schwärmt von seinen Strukturreformen und stellt milliardenschwere Infrastrukturprojekte vor, wie gerade den Bau eines neuen Flughafens für die Hauptstadt. Da passen Berichte von Folter, Misshandlung und der Festnahme Unschuldiger nicht ins Bild.

Claudia Medina ist mittlerweile gegen Kaution wieder auf freiem Fuß. Vor Gericht zog sie alle Geständnisse zurück und beteuerte, dass sie unter Folter zustande kamen. Bis auf Waffenbesitz wurden daraufhin alle Anklagepunkte fallengelassen. Sie will nun, dass ihre Peiniger bestraft werden. Doch die Marine bestreitet die Vorwürfe und die Generalstaatsanwaltschaft verschleppt die Ermittlungen: "Früher dachte ich, Armee und Marine beschützen uns", sagt Claudia Medina. "Heute weiß ich, dass es Verbrecher sind, die sich hinter ihrer Uniform verstecken."

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