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Bedrohte Presse in Mexiko: "Wenn sie wollen, kriegen sie dich" - SPIEGEL ONLINE - Panorama

Am anderen Ende der Leitung bleibt es für einen kurzen Moment still. Dann sagt Ismael Bojórquez: "Ich werfe mir noch immer vor, dass wir Javier nicht entschiedener dazu gedrängt haben, das Land oder mindestens die Stadt zu verlassen!"

Bojórquez, 60, ist Chefredakteur und Mitbegründer des Wochenblattes "Ríodoce" in Culiacán, der Hauptstadt von Sinaloa - jenem mexikanischen Bundesstaat, aus dem auch das berüchtigte Sinaloa-Kartell des inhaftierten Bosses "El Chapo" Guzmán stammt.

Am 15. August, genau drei Monate nach der Ermordung von Javier Valdez, besuchten Bojórquez und die gesamte Redaktion eine Protestveranstaltung vor dem Regierungssitz in Culiacán. "Drei Monate und noch immer keine Gerechtigkeit", ärgert sich Bojórquez. Gemeinsam mit seinem Freund Valdez hatte er "Ríodoce" vor 14 Jahren gegründet.

Unbekannte zwangen Valdez am 15. Mai unweit der Redaktion aus seinem Auto und töteten ihn mit mindestens zwölf Schüssen. Keiner der mehr als hundert Morde an Reportern seit 2000 hat das Land so sehr erschüttert wie der Tod von Valdez. Er war einer der einfühlsamsten und bekanntesten Autoren zum Thema organisierte Kriminalität, schrieb Bücher über die Opfer des Drogenkriegs, trat öffentlich auf und geißelte die Macht des Verbrechens in Mexiko. Wegen seiner Bekanntheit galt Valdez als unantastbar. Aber in dem Land, in dem im neuerlich aufgeflammten Ringen der Kartelle um Reviere und Routen jeden Tag 75 Morde verübt werden, kann es jeden treffen.

Und wie eigentlich immer ist der Staat nicht in der Lage oder willens, die Täter und Hintermänner zur Verantwortung zu ziehen. Dabei deutet sehr viel darauf hin, dass die Söhne Guzmáns hinter der Ermordung stecken. Sie hatten Valdez Mitte Februar gedrängt, ein Interview mit ihrem Gegenspieler um die Macht im Sinaloa-Kartell, Dámaso López, nicht zu veröffentlichen. "Das haben wir zurückgewiesen", erklärt Bojórquez. Dann hätten sie die Auflage des Wochenblattes aufkaufen wollen, auch das habe die Zeitung abgelehnt. Am Ende ließen die Söhne von "El Chapo" einfach alle den Kiosken verfügbaren Exemplare wegkaufen.

Seit der Auslieferung Guzmáns an die USA Ende Januar kämpfen mehrere Fraktionen um die Vorherrschaft in einer der größten Verbrecherorganisationen der Welt. Und Javier Valdez geriet dabei ins Kreuzfeuer.

"Wir machen weiter wie vorher"

Was ist seit damals passiert? "Wir machen weiter wie vorher", sagt Bojórquez entschieden. Nichts anderes hätte Javier Valdez erwartet. "Wir schreiben über Menschenrechte, soziale Schieflagen, Armut und Gewalt. Das ist unsere Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft." Leider trete man dabei oft genug der Regierung oder dem organsierten Verbrechen auf die Füße, ohne es explizit zu wollen. "Hier in Culiacán steht die Wiege der größten Drogenbosse des Kontinents, hier sind 60 bis 70 Prozent der Wirtschaft, der Kirche, der Regierung und auch des Sports unterwandert."

Seit Valdez' Tod verfolgt "Ríodoce" auch die Ermittlungen in dem Fall, schreibt über die Untätigkeit der Justiz, hält das Andenken lebendig. "Ein Teil unserer Redaktion gleicht einer Kommandozentrale voller Plakate, Aufkleber und Fotos", sagt der Chefredakteur.

Auf Anraten der Regierung und der Journalistenschutzorganisation Artículo 19 hat "Ríodoce" einige Sicherheitsmaßnahmen ergriffen. Die Redaktion ist jetzt mit Kameras ausgestattet, Polizisten bewachen rund um die Uhr das Gebäude, an Vertriebstagen begleiten Sicherheitskräfte die Auslieferer. "Und bei vielen Sitzungen und Besprechungen lassen wir die Mobiltelefone draußen, weil der Staat sie mit Spyware infiziert hat", sagt der Chef. Daheim habe er jetzt einen Zaun um sein Haus gebaut. Aber Bojórquez weiß natürlich, dass es keinen wirklichen Schutz gibt: "Wenn sie wollen, kriegen sie dich."

Eines ist ihm besonders wichtig: "Javiers Tod hat unsere Zunft zusammenrücken lassen." Es gab vorher wenig Solidarität, viel Neid und Konkurrenz unter Mexikos Journalisten, aber nach dem Mord riefen mehrere Hundert Reporter, Autoren, Medien und zivile Organisationen die "Agenda de periodistas" ins Leben, die "Journalistenagenda". In diesem Format diskutieren sie über ihre Profession, Gefahren wie Korruption, Selbstzensur und Bedrohung durch das organisierte Verbrechen, tauschen sich mit Kollegen in Kolumbien oder Brasilien aus. "Wir müssen selbst was für uns tun", betont Bojórquez.

Vielleicht wäre Javier Valdez noch am Leben, wenn er damals Culiacán für eine Zeit verlassen hätte. "Aber er wollte nicht gehen, er dachte an seine Familie, die Schulabschlussfeier seines Sohnes", sagt Bojórquez. Das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) mit Sitz in New York hatte Valdez Jobs in Peru und Argentinien angeboten. "Ríodoce" hätte ihn liebend gerne mit einer Recherche in einen sicheren Bundesstaat Mexikos geschickt. "Mich lässt nicht los, dass wir nicht darauf beharrt haben, dass Javier die Stadt verlässt", sagt Bojórquez.

Die Gewalt gegen Journalisten hat indessen nicht abgenommen. Luciano Rivera, Reporter eines lokalen TV-Senders im Bundesstaat Baja California, wurde am 30. Juli in einer Bar von Unbekannten erschossen. Er war der neunte getötete Journalist in sieben Monaten.

Seit Amtsantritt von Präsident Enrique Peña Nieto im Dezember 2012 sind laut dem CPJ 25 Reporter getötet worden, 589 erhalten nach Angriffen und Drohungen staatliche Schutzmaßnahmen. Mexiko hat sich zu einem der tödlichsten Arbeitsplätze für Journalisten entwickelt.

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