Manchmal sind es die Eltern, die darauf bestehen - oder für einen selbst gehört es zum Fest irgendwie dazu: Auch, wer das ganze Jahr keine Kirche von innen gesehen hat, den zieht es an Weihnachten häufig doch in den Gottesdienst.
Etwa 734.000 Protestanten besuchten im Jahr 2018 regelmäßig den Sonntagsgottesdienst ( EKD). An Heiligabend hingegen saßen etwa 8,3 Millionen Menschen in den Kirchenbänken. Und wer denkt, zumindest junge Leute boykottierten den Kirchbesuch: In diesem Jahr planen laut einer Umfrage 31 Prozent der Unter-30-Jährigen, an Heiligabend in den Gottesdienst zu gehen ( domradio).
Besuch bei Tim Fink, 33. Er ist seit diesem Jahr der neue evangelische Pfarrer im südhessischen Idstein. In der Kirche laufen die Vorbereitungen an diesem Nachmittag kurz vor Weihnachten auf Hochtouren, das Weihnachtsmusical muss geprobt werden. 600 Menschen sollen hier zum Weihnachtsgottesdienst kommen.
bento: Tim, was bedeutet die Weihnachtszeit für dich?
Tim: Erstmal viel Arbeit. Für mich ist Weihnachten in diesem Jahr etwas besonderes, weil es das erste Mal ist, dass ich den Weihnachtsgottesdienst in meiner neuen Gemeinde als Pfarrer feiere. Das hat etwas von "ins kalte Wasser springen", weil viele da sein werden, die ich noch nicht kenne - das macht es herausfordernd. Die Menschen sind in dieser ganz besonderen Weihnachtsstimmung und wollen so auch aus dem Gottesdienst herausgehen. Das ist kein Gottesdienst, bei dem eine Scheltpredigt angebracht wäre.
Tim: Eine Predigt nach dem Motto: Jetzt seid ihr also auch mal wieder alle da. Sowas habe ich von Kanzeln auch schon gehört. Ich denke, so etwas motiviert niemanden. Ich will die Menschen abholen, ich will sie mit meiner Predigt so beschäftigen, dass sie sich denken: Der Pfarrer gibt mir etwas mit.
bento: Aber mal ehrlich: Ärgert es dich nicht, wenn viele nie in den Gottesdienst kommen, außer mal an Weihnachten und Ostern?
Tim: Da gibt es diesen spöttischen Ausdruck der "U-Boot-Christen" - für Menschen, die zweimal im Jahr auftauchen, nur um dann wieder abzutauchen. Ich habe gar nichts gegen U-Boot-Christen, immerhin tauchen sie auf. Und ich finde es auch nicht schlimm, wenn jemand nicht auftaucht, weil er sein Christsein anders auslegt. Das ist die Religionsfreiheit: die Freiheit der positiven genauso wie der negativen Religionsausübung.
Tim: Wir haben in der Kirche eine zu starke Komm-Struktur. Wir sagen den Menschen: "Komm zu uns, wir sind hier in der Kirche." Dass das ein niedrigschwelliges Angebot ist, stimmt nicht. Die Schwelle über die Kirchentür ist riesig, schon allein der Liturgie wegen. Wenn man die Gottesdienstordnung gar nicht kennt, wenn man Gottesdienst nie "gelernt" hat, dann fragt man sich doch: Warum soll ich an genau dieser Stelle Halleluja sagen?
Wir müssen uns fragen, was wir da verändern müssen. Muss sich nicht eigentlich Gottesdienst insgesamt verändern? Vieles entspricht nicht mehr unserer heutigen Sprache.
bento: Was muss sich ändern?
Tim: Wenn wir nun an Weihnachten predigen, dass uns ein Kind geboren ist, könnte man erstmal mit den Schultern zucken. Es werden täglich Tausende Kinder geboren. Mit einem Geschichtsvortrag darüber, was vor zweitausend Jahren geschehen ist, hole ich niemanden mehr hinterm Ofen hervor. Die Frage ist doch: Was hat das für dich und für mich heute, im Hier und Jetzt, für eine Bedeutung? Wenn ich diese Frage nicht beantworte, dann muss ich mich auch nicht wundern, wenn die Menschen nicht mehr kommen. Ich kenne diese Situationen ja selbst aus meiner Ausbildungszeit: Man sitzt im Gottesdienst mit vier oder fünf Leuten, und einer von denen ist noch der Organist. Das ist doch kein Gemeinschaftserlebnis, und das macht auch nicht wirklich Spaß.
Tim: Eher Traurigkeit. Natürlich freut man sich über die, die gekommen sind. Aber ich denke mir, eigentlich haben wir doch so eine wunderbare Botschaft zu verkünden. Die heißt, Gott liebt dich, egal wie du bist. Aber wenn man dann nur vor fünf Menschen predigt, fragt man sich schon: Warum machen wir das eigentlich noch? Welche Aufgabe haben wir als Kirche überhaupt noch in der Gesellschaft? Gleichzeitig denke ich, wir werden dringender gebraucht denn je. Wir können etwas Gutes bewirken in der Gesellschaft. Das ist eine ganz wichtige Aufgabe der Kirche. Dass die evangelische Kirche ein Flüchtlingsschiff ins Mittelmeer schicken will, das ist für mich eine tolle Verkörperung des Evangeliums.
Tim: Das stimmt, und das ist natürlich auch bei uns so. Jeder Austritt tut weh, weil dann jemand ganz klar sagt: Ich spiele nicht mehr bei euch mit. Dass das so viele junge Menschen tun, kann ich auch irgendwie nachvollziehen: Das ist das Alter, in dem man mit dem Beruf beginnt und sieht, dass auf der Gehaltsabrechnung die Kirchensteuer abgeht.
Tim: Gottesdienst ist nur ein kleiner Teil davon. Pfarrer sind auch einfach Gesprächspartner. In allen Lebenslagen. Pfarrer sind vertrauliche Personen, wir werden aus solchen Gesprächen nichts weitersagen. Ich möchte auf die Menschen zugehen und ihnen helfen, wenn sie gerade eine Krise bewältigen müssen.
Denn darum geht es doch heute. Der Generation zwischen 20 und 30 stehen so viele Türen offen wie noch nie. Wir ertrinken in einer Vielzahl an Möglichkeiten. Da müssen wir uns fragen: Was ist der Sinn meines Lebens? Wo möchte ich hingehen, wo möchte ich ankommen? Dabei würde ich die junge Generation, meine Generation, gern unterstützen.