Seit dem Präsidentenmord eskaliert die Gewalt in Haiti immer mehr. Im Interview erzählt Annalisa Lombardo, Landesdirektorin Haiti der Welthungerhilfe, was es bedeutet, wenn Gangs das Land regieren – und worauf die Menschen trotzdem hoffen.
Die bereits äußerst angespannte Sicherheitssituation und die humanitäre Lage in Haiti hat sich seit Ende Februar weiter verschärft. Bandengewalt verhinderte die Rückkehr von Interims-Premierminister Ariel Henry von einer Auslandsreise, dieser kündigte seinen Rücktritt an. Bereits vor der jüngsten Eskalation hatten verschiedene bewaffnete Gruppen nach UN-Angaben insgesamt etwa 80 Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince unter ihrer Kontrolle. Annalisa Lombardo ist Landesdirektorin Haiti der Welthungerhilfe, im Interview spricht sie über die katastrophale Lage vor Ort.
Annalisa Lombardo, seit dem Mord an Präsident Jovenel Moïse 2021 wird Haiti vornehmlich von Gangs regiert. Eine offizielle Regierung gibt es nicht. Was bedeutet das für das Leben der Menschen dort?Gangs sind nichts Neues in Haiti, im Gegenteil: Sie sind seit den Achtzigerjahren ein fester Bestandteil der Insel. Die Gruppen wurden mit den Jahren größer, rekrutierten viele Jugendliche aus benachteiligten Vierteln. Noch heute greifen sie Viertel an, um ihr Gebiet zu vergrößern. Und jedes Mal, wenn sie das tun, fliehen Tausende. In Haiti gibt es 330.000 Binnenflüchtlinge - einzig und alleine wegen der Banden. In Port-au-Prince regieren die Gangs bereits 80 Prozent der Stadt. Aber sie haben das ganze Land im Würgegriff.
Wie meinen Sie das?Die Banden kontrollieren in der Gegend der Stadt alle Hauptstraßen, die aufs Land führen. Das bedeutet, dass alles, was rein und raus geht, besteuert wird. Auch die Hafenterminals stehen unter ihrer Kontrolle. Die meisten Waren in Haiti werden importiert. Allen voran: Kraftstoff. Davon hängt alles ab: Wenn ich fließendes Wasser haben will, brauche ich Kraftstoff. Wenn das Krankenhaus funktionieren soll, brauche ich Kraftstoff. Selbst, dass wir miteinander reden können via Internet - Kraftstoff. Wer Kraftstoff hat, ist also sehr mächtig. Durch die Besteuerung der Banden treiben sie die Preise in die Höhe. Kaum jemand kann sich das noch leisten. Und in Haiti ist dazu alles sehr zentralisiert. Selbst, wenn sie in einer „sicheren" Umgebung außerhalb von Port-au-Prince leben, gibt es unter Umständen keinen Kraftstoff. Weil die Banden nicht zulassen, dass Lastwagen die Stadt verlassen. Das Gleiche mit Nahrung. Das hat dramatische Folgen: 50 Prozent der Bevölkerung werden in den nächsten Monaten unter IPC 3 und 4 fallen. Das bedeutet humanitäre Notlage bis hin zur Hungersnot. Schlimmer geht es kaum. Und das betrifft ungefähr fünf Millionen Menschen.
Vor wenigen Wochen ist der Premierminister Ariel Henry zurückgetreten. Welche Auswirkungen hatte das auf das Leben der Menschen?In den letzten Jahren wurde es für die Bevölkerung Haitis, vor allem in Port-au-Prince, deutlich unsicherer. Mehr als 3000 Entführungen im Jahr, zahlreiche willkürliche Morde. Schon lange wurde gefordert, dass Ariel Henry zurücktritt. Aber er war völlig blind für das, was geschah. Als er schließlich zurücktrat, hatten sich die Machtverhältnisse schon zugunsten der Banden geändert. Jetzt ist es noch schwieriger als noch vor einem halben Jahr, eine Gruppe zu identifizieren, die regierungsfähig wäre.
In Haiti sind Vergewaltigungen und Morde alltäglich. Im sicheren Deutschland ist das kaum vorstellbar. Wie gehen die Menschen in Haiti mit diesem Maß an Gewalt um?Es gibt einen Ausdruck, den ich in den letzten Wochen oft gehört habe: Banalisierung de la vie, auf deutsch „die Banalisierung des Lebens". Es ist, als wäre das Leben wertlos. Es klingt hart, aber man gewöhnt sich an die Leichen auf der Straße. Das erste Mal ist ein Schock. Aber irgendwann fallen sie kaum noch auf. Es ist schrecklich, aber sich daran zu gewöhnen, ist eine Schutzstrategie für die Menschen. So kann man das aushalten, so kann man überleben. Ich höre jeden Tag Waffenschüsse. Die gehören mittlerweile dazu wie das Vogelzwitschern. Man hat nicht die Fähigkeit, etwas zu ändern, also lebt man damit. Der Tod wird normal.
Hat die Gewalt zugenommen?Ja, es kommt auch immer wieder zu Kämpfen zwischen unterschiedlichen Gangs und anderen Gruppen - auch in Vierteln, die eigentlich als sicher gelten. Ein Beispiel: Anfang März wurden Gefangene aus dem Nationalgefängnis entlassen. Einer davon, er wurde Tigreg genannt, war ein Anführer in einem Gebiet in Petrvilla, einem eigentlich „sicheren" Viertel. Es gab plötzlich viele Schießereien dort, gestern wurde er bei einer davon getötet. Er hatte wohl versucht, seine Autorität in diesem Viertel wieder herzustellen.
Sexuelle Gewalt spielt - wie fast immer in Kriegen - eine große Rolle. Viele Frauen und auch Kinder werden vergewaltigt. Welche Hilfe bekommen diese Menschen?Abtreibung ist in Haiti illegal. Aber es gibt in Port-au-Prince ein geschlechtsspezifisches Überweisungssystem für Opfer von Gewalt. Darüber bekommen die Überlebenden medizinische, psychologische, rechtliche und auch wirtschaftliche Hilfe. Man will sie auch dabei unterstützen, aus der Situation rauszukommen und beispielsweise umzuziehen. Sie haben sogar eine App entwickelt, um die Kontaktaufnahme mit Überlebenden zu erleichtern. Denn der Zugang ist ein großes Problem. Es gibt Gegenden, in die man nicht gehen kann, wenn man nicht dorthin gehört.
Können die Kinder noch zur Schule gehen?Die meisten Eltern haben Angst, dass ihre Kinder nicht zurückkommen aus der Schule. Also schicken sie sie nicht. Die meisten Schulen funktionieren auch nicht. Einige, weil sie sich in dem von der Bande kontrollierten Gebiet befinden, andere, weil sie von Vertriebenen als vorübergehende Unterkunft genutzt wurden. Deshalb versuchen sie, wie in der Covid-Zeit, Online-Kurse einzurichten. Da kommt es dann auch mal dazu, dass Klassenkameraden den Zoom-Kurs verlassen müssen, weil ihr Haus angegriffen wird.
Gab es vor dem Mord an Jovenel Moïse mehr Hoffnung in Haiti?Es war vorher schon schwierig. Ich denke, der Präsident wurde getötet, weil die Stimmung langsam kippte - und nicht andersherum. Seit dem Erdbeben vor 14 Jahren gibt es viele ungelöste Probleme. Damals bin ich mit meiner Schwester und Freundinnen an den Strand gefahren am Wochenende. Wir waren völlig sorglos. Wunderschöne Strände, tolles Essen. Aber nach dem Erdbeben war alles zerstört, so viele Menschen waren gestorben. Und davon hat sich das Land nie so richtig erholt.
Die Vereinten Nationen versuchten jahrelang Entwicklungshilfe zu etablieren, scheiterten jedoch. Was würde den Menschen in Haiti tatsächlich helfen?Wir brauchen jetzt eine humanitäre Antwort, um Leben zu retten, aber wir müssen die zugrunde liegenden Ursachen dieser Situation im Auge behalten. Es ist eine humanitäre Krise, aber die Lösung kann nicht zu 100 Prozent humanitär sein. Das bedeutet: Wir müssen versuchen, alle konstruktiven Bereiche der Gesellschaft miteinander zu vernetzen und zu koordinieren. Und die Haitianer sollten im Mittelpunkt stehen - sowohl bei der Planung als auch bei der Umsetzung. Wir dürfen nicht die Kapazitäten und Ressourcen dieser Menschen untergraben, nur um eine schnelle Lösung zu haben.
Wie erleben Sie die gerade die Stimmung in der Zivilbevölkerung?Ich erlebe Hoffnung auf einen Neuanfang, Resignation und Angst vor dem völligen Zusammenbruch. Eine Mischung aus alldem. Es ist ein einzigartiger Moment in unserer Geschichte. Und da ist auch Neugier. Manche denken sich: Was kann jetzt noch schlimmer werden? Es gibt eine Redewendung: Heute ist nicht morgen. Man lebt von einem Tag zum anderen. Ich weiß nicht, ob das Hoffnung ist. Aber ich möchte es als Hoffnung begreifen.
Haben Sie manchmal Angst?Nicht um mich selbst. Die Gewalt richtet sich nicht gegen Ausländer. Das klingt schrecklich, aber so ist es. Die Haitianer sind viel verletzlicher. Aber im Allgemeinen habe ich schon manchmal Angst, ja. Weil es mir wichtig ist, was mit diesem Land passiert und manchmal weiß ich nicht, ob es gut werden wird. Viele meiner Kolleginnen sind gegangen, weil es ihnen zu viel wurde. Eine Kollegin wollte zu ihren Kindern. Das konnte ich total verstehen.
Würden Sie auch gehen?Nein. Ich habe keine Kinder, das macht die Antwort einfacher. Aber es ist eine schwierige Frage. Ich bin ja keine Haitianerin, für mich ist es einfacher, woanders zu leben. Aber ich möchte das Land und die Menschen nicht im Stich lassen, nur weil die Situation schwierig ist. Gerade, wenn viele Leute gehen, ist es umso wichtiger zu bleiben und die Hilfe fortzusetzen, die so dringend gebraucht wird.
Worauf hoffen die Menschen in Haiti?Sicherheit steht an erster Stelle. Wenn es Sicherheit gibt, wird es Lebensmittel geben. Sicherheit ist ja auch, arbeiten zu können. In Haiti fahren Menschen oft mit sogenannten „Tap-Taps" zu Arbeit. Das ist ein Pickup, der als eine Art Sammeltaxi verwendet wird. Diese Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt von Tag zu Tag. Sie müssen sich ihr Leben also wortwörtlich jeden Tag verdienen. Wenn es aber Straßensperren gibt, können Sie nicht zur Arbeit. Und dann gibt es auch kein Essen. Das hängt alles zusammen.
Was gibt Ihnen Hoffnung?Die Leute, die daran glauben. Ich habe mich entschieden, ihnen zu vertrauen.