Herr Krahé, seit dem Verfassungsgerichtsurteil zum Bundeshaushalt wird viel über eine Reform der Schuldenbremse debattiert. Sie forschen seit Jahren im Thinktank „Dezernat Zukunft" zum Thema. Welche Reform brauchen wir, um das 60-Milliarden-Loch zu stopfen?
Wenn man das Loch nicht über wiederholte Notlagen stopfen will, muss man ans Grundgesetz. Aber eine Grundgesetzreform ist komplex und erfordert viel Vorarbeit. Diese Vorarbeit haben wir noch nicht geleistet, weil das erst seit kurzem politisch denkbar ist. Klar ist: Es gibt einen Reformbedarf. Wir untersuchen nun zwei Optionen. Die kleinere Lösung wäre ein Sondervermögen in die Verfassung zu schreiben - analog zu dem der Bundeswehr. Aber damit würde man den Haushalt ein Stück weit zerstückeln und künftigen Regierungen die Möglichkeit nehmen, anders zu priorisieren. Wenn künftige Mehrheiten beispielsweise besonders in Bildung investieren wollen, geht das nicht mit einem verfassungsrechtlichen Sondervermögen für Klima. Diese Lösung ist also gut für die Transformation, aber demokratietheoretisch nicht ideal.
Was wäre denn eine idealere Lösung?Man könnte die Strukturkomponente reformieren. Die definiert, wie hoch man sich trotz Schuldenbremse jedes Jahr neuverschulden darf. Sie liegt bei 0,35 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP).
Wie genau soll diese Reform aussehen?Man könnte für produktive Ausgaben eine höhere Verschuldung als 0,35 Prozent erlauben. Sozusagen einen Ermöglichungsparagrafen schaffen. Damit wäre es möglich, für einen bestimmten Zweck mehr Schulden zu machen - wenn die Schulden tragfähig sind. In Zeiten, in denen Zinsen steigen oder das Wachstum abflacht, greift dann wieder die harte 0,35. Das wäre eine Ermöglichungsregel, die die Stabilität der öffentlichen Finanzen aber immer im Blick hat.
Wonach richtet sich die Tragfähigkeit von Schulden?Die Frage ist: Wie viel Geld gebe ich jedes Jahr für Zinsen aus? Wenn das auf absehbare Zeit stabil ist, sind die Schulden tragfähig. Also wenn ich weiß, jedes Jahr kosten mich meine Schulden zwei Prozent vom BIP, dann habe ich kein Problem. Denn das bedeutet, 98 Prozent der volkswirtschaftlichen Leistung stehen zur Verfügung für das, was wichtig ist.
Was ist der Vorteil dieser Reform gegenüber dem Aussetzen der Schuldenbremse in Notlagen?Man müsste jedes Jahr eine neue Notlage ausrufen, wenn man Ausgaben machen will, die über die Struktur- und Konjunkturkomponente hinausgehen. Mit einer Reform im Grundgesetz hätte man Rechtssicherheit, dass diese Art von Ausgaben verlässlich finanzierbar sind.
Was sind die größten Herausforderungen bei einer solchen Reform der Strukturkomponente?Es ist nicht einfach abzugrenzen, was produktive Ausgaben sind. Da werden die einen das sagen, die anderen das andere. Sich zu einigen wird schwierig. Eine andere Frage, auf die wir selbst noch keine eindeutige Antwort haben, ist: Wie würde eine derartige Reform der Schuldenbremse im Grundgesetz zusammen gehen mit den europäischen Fiskalregeln? Das ist gerade schwierig zu beantworten, weil auch die zurzeit reformiert werden.
Warum reformiert man die Schuldenbremse überhaupt und schafft sie nicht einfach ab?Wenn es eine politische Mehrheit dafür gäbe, dann wäre dieser Schritt eine Überlegung wert. Es ist natürlich wichtig eine Regel zu haben, mit der man den Haushalt plant. Aber ob die wirklich Verfassungsrang haben muss, würde ich in Frage stellen. Es gibt auch keine andere große Industrienation, die sich eine derart detaillierte Fiskalregel in die Verfassung schreibt. Und das funktioniert auch.
Die Schuldenbremse schien 10 Jahre lang gut zu funktionieren. Warum tut sie heute das nicht mehr?Es ist nicht klar, ob sie wirklich gut funktioniert hat. Deutschlands Wirtschaft konnte auf dem Rücken von günstiger russischer Energie und rasant wachsender Nachfrage von China schnell wachsen. Und schnelles Wachstum bedeutet hohe Steuereinnahmen. Wir hatten also eine günstige Konstellation. Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 ist das aber passé. Zudem wurde der Spielraum, den die Schuldenbremse erlaubt, nie ausgeschöpft. Das war also eher der Geist übertriebener Sparsamkeit als die Schuldenbremse. Und man muss in Deutschland ja nur dreimal Bahn fahren und man weiß, welche Investitionen fehlen. Es ist prinzipiell gut, keine Schuldenberge anzuhäufen, aber kaputte Infrastruktur ist auch nicht gut.
Bräuchte Deutschland eher eine Investitionsregel als eine Schuldenvermeidungsregel?Die Schuldenbremse ist im Kontext der Eurozone und der europäischen Fiskalregeln entstanden. In einer Zone, in der man eine Währung hat, aber unterschiedliche Regierungen und nationale Haushaltspolitik, gibt es immer zwei Probleme: Die Versuchung zu viele Schulden zu machen, aber auch die Versuchung, das Schuldenmachen den anderen Ländern zu überlassen. Bei Letzterem profitiert man von den Ausgaben der anderen Länder, die sich verschulden, zum Beispiel um gegen eine Wirtschaftskrise anzukämpfen. Im europäischen Kontext wären durchaus Regeln angemessen, die sagen „Hey, zu viel sparen ist auch nicht okay". Und Deutschland kann sich mehr Verschuldung sehr gut leisten. Im G7-Durchschnitt ist die Schuldenquote ungefähr bei 110 Prozent des BIPs im Durchschnitt, Deutschland liegt bei etwa 65 Prozent. Wir könnten also 30 Prozent des BIPs an Schulden obendrauf satteln und wären immer noch unter dem G7-Durchschnitt.
Union und FDP sind derzeit nicht mehrheitlich für eine Reform der Schuldenbremse zu haben ...Gute Finanzpolitik bedeutet auch das Abwägen von verschiedenen Risiken. Wir haben uns in Deutschland dafür entschieden, die öffentliche Bilanz stark zu schützen. Wir haben niedrige Schulden und Defizite, also auch weniger finanzielle Risiken. Aber reale Risiken bauen sich mehr und mehr auf, siehe Klimawandel, Infrastruktur, der Wettbewerb um Zukunftsindustrien oder Außenpolitik. Wir müssen darüber reden, wie wir diese unterschiedlichen Risiken - finanziell und real - in Zukunft balancieren wollen. Es gibt einen akuten Reformbedarf und den sollte man jetzt angehen. Das zu blockieren, weil man die Schuldenbremse nicht anfassen will, halte ich für kurzsichtig, vielleicht sogar gefährlich.
Gibt es noch andere Möglichkeiten die Schuldenbremse zu reformieren?Unser Vorschlag war, einen Teil der Schuldenbremse anzupassen. Konkret: Die Berechnung der Konjunkturkomponente. Die Konjunkturkomponente soll dafür sorgen, dass die Wirtschaft durch Haushaltspolitik an ihr Potenzial herangeführt wird. Also, dass etwa alle Menschen, die arbeiten möchten, einen Job finden können. Aber die große Frage ist: Wie soll man das berechnen? Bisher wird das Potenzial überwiegend aus der Vergangenheit nach vorne projiziert. Aber politische Maßnahmen, die das Potenzial steigern können, fehlen. Dadurch schießen wir - wenn Mütter etwa plötzlich mehr arbeiten können durch Kita-Ausbau - übers Ziel hinaus. Die Folge ist: Die Haushaltspolitik muss bremsen, damit die Wirtschaft nicht über die historische, aber mittlerweile überholte Potenzialprognose hinausschießt. Das könnte man mit einer Reform schnell ändern. Aber: Wir reden hier über einstellige Milliardenbeträge. Die Reform ist gut, aber sie füllt nicht das 60-Milliarden-Loch.
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