In „Grand Tour“ versammeln Büchner-Preisträger Jan Wagner und Federico Italiano Dichterinnen und Dichter aus ganz Europa und darüber hinaus. Jetzt waren sie mit dem Gedichtband im Literaturhaus in Hannover zu Gast.
Die Vorbilder sind groß, in deren Reihe sich Büchner-Preisträger Jan Wagner und Federico Italiano stellen. Aber der letzte, legendäre Gedichtband ist auch lange her: 1995 veröffentlichte Joachim Sartorius den „Atlas der neuen Poesie“, Hans Magnus Enzensbergers „Museum der modernen Poesie“ liegt 35 Jahre weiter zurück. Beide gelten heute als Standardwerke der Lyrik. Wagner und Italiano haben nun mit den Autorinnen Els Moors und Cia Rinne ein neues Gesamtwerk namens „Grand Tour“ im Literaturhaus vorgestellt.
Das poetische Europa
Anders als bei Sartorius legen Italiano und Wagner den Schwerpunkt ihrer Auswahl auf Europa. Genauer gesagt: das jüngere Europa. Nur wenige Autorinnen und Autoren der Texte in der Anthologie sind überhaupt über 50 Jahre alt. „Wir dachten uns: Wenn man schon eine willkürliche Grenze setzt, dann muss es 1968 sein. Das war ein wichtiges Jahr in ganz Europa. Man denke nur an den Prager Frühling“, erklärt Wagner.
Das Europa, wie die beiden Lyriker es sehen, macht allerdings nicht Halt an seinen geopolitischen Grenzen. Das Gesamtwerk ist auch die Utopieeines Europas, das – literarische Verbindungen abtastend – die Arme ausstreckt nach der Welt. „Unser Europa ist weit“, sagt Italiano. Und so gibt es auch Texte aus Israel, der Türkei oder Georgien in dem Buch. Einige Autoren – wie die schwedisch-finnische Autorin Cia Rinne – sind transnational. Insgesamt 49 Länder und 46 Sprachen vereint „Grand Tour“ auf fast 600 Seiten. Darunter auch weniger populäre Sprachen wie Bretonisch oder Serbisch.
Gedichte wie Gemälde
Und weil bei kaum einer Gattung die Phonetik eine so große Rolle spielt wie in der Lyrik, ist jedes Gedicht auch in seiner Originalsprache abgedruckt. Deutlich wird die Notwendigkeit dieses Verfahrens, als Rinneeinige ihrer Gedichte aus dem Band vorträgt: Wie bei einem Musikstück reiht sie Worte als Klangbilder rhythmisch aneinander, variiert die Geschwindigkeit und die Betonung. „Sie arbeitet so sehr mit Klängen, dass man sie eigentlich Komponistin nennen müsste“, sagt Italiano. Die Form wird vom Takt bestimmt, der Inhalt ist fragmentarisch, referenziell und mehrsprachig. „Ich denke, es ist eine Art minimalistische Lautpoesie. Näher am Gemälde als an traditionellen Gedichten“, sagt sie.
Els Moors’ Gedichte sind klassischer, klingen auf Flämisch vorgetragen ruhig und weich. Sie reiht alltägliche Gedanken und Eindrücke aneinander, schreibt über „rammelnde Kaninchen“ und Sachen, die man machen kann, damit das Leben besser wird.
Kulturelle Vielfalt des Kontinents
„Grand Tour“ vereint nicht nur unterschiedliche Sprachen, sondern auch unterschiedliche kulturelle Kontexte und Themen. Der Gedichtband zeigt die kulturelle Vielfalt dieses Kontinents. Das Mittel der inhaltlichen Verständigung ist die Übersetzung. Die – wie Umberto Eco schon 1993 formulierte und Italiano im Literaturhaus zitiert – die eigentlich Sprache Europas ist. Und die Diagnose der Herausgeber, die sie der Anthologie voranstellen, ist gut: „Das Europa der Lyrik ist in bester Verfassung“, zitiert Wagner, „anders als das politische.“
Jan Wagner, Federico Italiano (Herausgeber): „Grand Tour: Reisen durch die junge Lyrik Europas. Hanser. 584 Seiten, 36 Euro.
Die nächsten Veranstaltungen im Literaturhaus: Am Mittwoch, 25. September, stellt Doris Dörrie um 19.30 Uhr ihr Buch „Leben, schreiben, atmen“ vor. Am Montag, 30. September, liest Fernando Aramburu um 19.30 Uhr aus „Langsame Jahre“.
Von Kira von der Brelie
Original