Unterwegs weckte ein Zitat von Émile Zola aus seinem Roman „Doktor Pascal“ (1893), das ich im Radio höre, meine Aufmerksamkeit:
„[…] il dirait tout, puisqu’il faut tout dire pour tout guérir.“
Ich habe erfahren, dass Zola jetzt Teil des Lehrplans in Frankreich ist, aber nicht so sehr zu den beliebtesten aktuellen Büchern gehört. Obwohl ich zwei Jahre lang in Belgien gelebt hatte, stieß ich zum ersten Mal in Osten Berlins auf Zolas Namen: Im letzten Jahr, als die erste Welle des Coronavirus in Berlin eintraf, schenkten viele Berliner ihren Nachbarn Bücher. So kam ich an ich Dutzende Bücher Zolas, denn ich bin ein Liebhaber und Amateursammler von Büchern und auch ein großer Bewunderer des europäischen Drucks und Bindens.
Ich habe in diesen europäischen Jahren gelernt, dass es als Individuum sehr gut oder sogar unverzichtbar ist, „alles zu sagen, um alles zu heilen“, wie Zola schrieb. Für mich ist es ein guter Kontrast zu dem, was ich mit meiner Familie, in der Schule und dann im „wirklichen Leben“ (bei der Arbeit, im Freundeskreis und im öffentlichen Leben) in Macau wahrgenommen und gelernt habe: Dort lernt man so diskret wie möglich zu sein. Dies wird als eine Art Tugend angesehen.
Der erste Gedanke, der mir als Reaktion auf das Zitat Zolas in den Sinn kam, war nur ein weiteres Zitat des großen und gelehrten chinesischen Literats Ji Xianlin (1911-2009), oder Dschi Hiän-lin, wie er während seiner deutschen Jahre als Doktorand in Indologie bekannt war. Ji sagte Folgendes auf Mandarin, das ich zu übersetzen versuche:
„Niemals sollte eine Lüge erzählt werden, und auch niemals die vollständige Wahrheit.“
Dieser Quasikultspruch unter chinesischen Sprachwissenschaftlern ist genau der Titel seiner mündlichen Autobiographie, die 2016, sieben Jahre nach seinem Tod, vom chinesischen Verlag Rote Fahne veröffentlicht wurde.
Das zweijährige Masterstudium in Visueller Anthropologie in Berlin war nicht darauf ausgerichtet, visuelle Anthropologen im engeren Sinne zu schaffen, sondern auch Aktivisten oder sogar kritische Militanten herzustellen, und zwar in der Hoffnung, dass Kritik diese Subdisziplin der Sozialwissenschaften verbessern könnte. Als ich meine Master-Urkunde erhielt, glaubte ich fest, ja sogar fast religiös daran, dass die Wahrheit nicht mehr existierte, ohne zu wissen, dass ich gerecht und hartnäckig nach einer „göttlichen“ Wahrheit suchte - das heißt nach einer absoluten Wahrheit.
Aber jetzt glaube ich an Perspektiven als Versionen der Wahrheit und nicht an das „göttliche“ Konzept der Wahrheit. Zusammenfassend und mit einem Satz, ich fürchte, er gehört er mir nicht, aber ich habe ihn einige Zeit verdaut und jetzt gebe ich ihn wieder:
„Es gibt keine Wahrheit, doch gibt es nur Perspektiven.“
Ich wiederhole, was ich bereits geschrieben habe, und kopiere eine Idee des deutschen Philosophen Peter Sloterdijk: Ich stehe auf keiner Seite, oder: ich stehe auf meiner eigenen Seite. Natürlich ist mir bewusst, dass diese individualistische Absicht nichts Besonderes in diesem riesigen Kollektiv der Individuen ist, einer Welt, die immer nach Produktion und Erfolg strebt.
Dies entlastet mich jedoch von einem unbewusst selbst-auferlegten Druck beim Beobachten der vielen Versionen der Wahrheiten, die irgendwo existieren; sogar fast allgegenwärtig. Also habe ich gelernt, dass es genauso wichtig ist, beide Seiten derselben Münze gleichermaßen wahrzunehmen.
Samuel Hui, der Sänger aus Hongkong, der im letzten Jahrhundert die kantonesische Popmusik an die Spitze brachte, schrieb 1988 zusammen mit Leslie Cheung (1956-2003) ein Lied mit dem Titel „沉默是金“ (cham mak si kam laut offizieller Macauer Romanisierung) - „Schweigen ist gold wert“, was aus Ratschlägen in gutem Glauben besteht. Ich glaube daher an die Bedeutung dieses kantonesischen Sprichworts, stimme jedoch gleichzeitig dem Zitat von Zola zu.
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