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Alte Tugend Höflichkeit: "Sag doch mal Grüß Gott!"

Altruismus aus Egoismus? Sehr gerne! © pixabay

Der Nachbarin die Türe auf- und zueinander Abstand halten, geduldig Schlange stehen und diskret abwenden beim Niesen: Seit gut einem Jahr erfährt die Höflichkeit ziemlich frischen Wind. Dabei macht die vermeintlich altverstaubte Tugend immer schon ungebrochen zuverlässig vor allem eins: uns selber glücklich.

 

Sag doch mal Grüß Gott

 

Wieder hat die Nachbarin nicht gegrüßt und dafür ein Autofahrer laut gehupt. An der Supermarktkasse drängelt der Hintermann den Einkaufswagen in die Hacken, im Park warten laute Musik und Himbeertabakwolken. Das hätte es früher nicht gegeben – stimmt’s? Stimmt nicht, sagt Dr. Larissa Pfaller und weiß stattdessen: „Zum einen sind wir alle zunehmend selbst genervter. Und zum anderen wird einfach viel mehr darüber geredet.“


Text: Katharina Wasmeier


Dabei wären Gelassenheit und das Bemühen, sich selbst zurückzunehmen, nicht nur die ersten Schritte zur Höflichkeit, sondern vor allem auch die zum eigenen Frieden. „Höflichkeit“ definiert der Duden als „höfliches, gesittetes Benehmen; Zuvorkommenheit“, Wikipedia als „Tugend, deren Folge eine rücksichtsvolle Verhaltensweise ist, die den Respekt vor dem Gegenüber zum Ausdruck bringen soll“. Die wir vor allem brauchen, so Dr. Larissa Pfaller, als „Verhaltensregeln, die unser Zusammenleben als kulturelle Wesen entlasten.“ Ein Zusammenleben, über das sich nicht nur die 39-jährige Soziologin von Berufs wegen Gedanken macht, sondern das spätestens seit der Frühneuzeit des späten 18. Jahrhunderts in klare Benimmrichtlinien gefasst ist: „Höflichkeit“ kommt von „höfisch“, also vom Leben am königlichen Hof, das geprägt ist von Etikette und Fettnäpfchen und deshalb im Gegensatz zum informellen Verhalten anderer Bevölkerungsgruppen zunehmend komplexer Handlungsregeln bedarf.

Ganz so schlimm ist’s bei uns im Alltag freilich nicht, doch auch hier gilt: „Höflichkeit als Verhaltensregel bringt Sicherheit in gesellschaftlichen Situationen.“ Dabei, so Dr. Larissa Pfaller, unterscheide sich der Modus Operandi von Kultur zu Kultur, von Land zu Land, von Milieu zu Milieu, von Alter zu Alter oder gar von Haustür zu Haustür. Wer vom Dorf in die Stadt zieht, erlebt das ganz schnell: „Während es auf dem Land völlig üblich ist, jeden zu grüßen, dem man begegnet, wird man in der Großstadt schnell merken: Das funktioniert hier nicht.“ Denn was in ländlichen Gegenden oder beispielsweise beim Wandern im Wald als Signal der Friedfertigkeit gilt, kann im Gewimmel der Stadt nicht mehr bewältigt werden. „Das Gefahrenmanagement“, sagt Pfaller, „dreht sich um: Im Wald muss ich die anderen als mögliche Gefahrenquelle im Blick haben, in der Stadt muss ich in erster Linie mein eigenes Verhalten managen und mich selbst kontrollieren, sodass ich komplexe Abläufe nicht gefährde – beispielsweise im Straßenverkehr.“

Schutz, das ist es eigentlich, was wir mit der Höflichkeit bezwecken. Denn mit ihr schaffen wir uns Verbündete, und die brauchen wir Menschen als soziale Wesen, die nur in der Gruppe wirklich funktionieren: Kooperation zum Überleben. Ein „Hallo!“ und „Wie geht’s?“ ist eigentlich nichts anderes als ein erstes vorsichtiges Austarieren, ob ein Freund oder ein Feind vor mir steht. Doch grad am Grüßen scheitert’s häufig: die arrogante Nachbarin, die unerzogenen Kids, der Grantige von gegenüber, unhöflich, respektlos, fürchterlich! Aber es wird ja eh alles überall schlimmer! Früher hätte es das nicht gegeben! „Das ist eine sehr subjektive Einschätzung“, findet Dr. Larissa Pfaller, und hat auch Ideen für Gründe: Zum einen, sagt die Soziologin, „wird einfach viel mehr darüber gesprochen.“ Vor allem sogenannte „Impuls-Posts“ in sozialen Medien verstärkten den Eindruck, die Gesellschaft würde immer aggressiver; doch vielmehr sei es so, dass es „diese Posts vor 20 Jahren schlichtweg nicht hätte geben können.“ Der Ärger blieb im kleinen Kreis. Heute wird er groß in die Welt geblasen und entwickelt eine Breitenwirkung.

Dass wir alle derzeit besonders angespannt sind, liegt auf der Hand – dass uns da Kleinigkeiten noch mehr stören als sonst, ebenso. „Wenn ich auf der Straße angerüpelt werde, stellt sich die Frage: Wie viele Ressourcen habe ich, um das einfach wegzustecken?“ Denn sich zurückzunehmen und den anderen zu hinterfragen, das kostet Energie – ist aber auch ein Ausdruck von Höflichkeit. Rücksichtnahme eben. Und die ist „erst dann möglich, wenn man in sich selbst ruht.“ Drehen die jungen Kerls im Park die Musik wirklich nur so laut auf, um andere zu nerven? Oder suchen sie nur verzweifelt nach einer Möglichkeit, sich ihren Platz in der Welt zu schaffen, Anerkennung zu finden, die ihnen sonst nicht gewährt wird, zu kompensieren, was ihnen sonst nicht gelingt, oder einfach: die Beachtung zu erhalten, die ihnen sonst nicht widerfährt? Und grüßt die Nachbarin wirklich nicht, weil sie arrogant ist, oder kommt sie vielleicht aus einem anderen Kulturkreis, spricht die Sprache nicht – und hat schlichtweg Angst? „Klar ist das Hinterfragen anstrengend“, sagt Dr. Larissa Pfaller.

Aber viel anstrengender ist doch, sich aufzuregen und Konflikte einzugehen. Höflichkeit hilft, diese zu vermeiden. Und auch Gelassenheit, denn offenbar steckt im einen oder anderen Aufreger in Wahrheit historische Tradition: „Die Klage über die Verrohung der Jugend ist eine ebenso alte Kulturtechnik, wie die Sozialfigur des grummeligen Nachbarn bekannt ist“, so Pfaller. Und in der Tat: Während wir heute finden, dass die Stimmung noch nie zuvor so gereizt war wie heute, so befanden bei einer YouGov-Umfrage von 1028 befragten Personen verschiedenster Altersgruppen 75 Prozent, dass es früher mehr Höflichkeit gab, und 76 Prozent, dass die Jugend zunehmend respektlos würde. Nur: Die Ergebnisse stammen aus dem Jahr 2015.

Was zahlreiche Lieder und Geschichten schon lang behaupten, untermauern zunehmend mehr Studien: Wer etwas Bestimmtes möchte, erreicht das am besten durch Freundlichkeit. So zeigten Schweizer Forscherinnen und Forscher, dass die Gäste größere Portionen bekommen, von denen man weiß, dass sie Trinkgeld geben – und noch größere diejenigen, die für ihre Freundlichkeit bekannt sind. Und noch überraschender: Freundlichkeit und Großzügigkeit machen glücklich – und zwar primär uns selbst. Der „Warm Glow Effect“ wurde schon in den 1980er Jahren vom Wissenschaftler James Andreoni geprägt: das warme Gefühl, das einsetzt, wenn man eine gute Tat begangen hat. Für wohltätige Zwecke spenden kann ebenso wärmen wie eine Tür aufzuhalten, jemanden an der Kasse vorzulassen oder von der alten Dame, der man auf der Straße freundlich zugenickt hat, ein dankbares Lächeln zurückzubekommen. Altruismus aus Egoismus? Absolut in Ordnung! 

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