1 subscription and 4 subscribers
Article

Ausprobiert: Piercen

Rolf Buchholz ist der meistgepiercte Mensch der Welt. Zumindest war er das im August 2010 – auf diesen Tag datiert nämlich sein diesbezüglicher Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde. Mit knapp 500 seinen Körper durchziehenden Metallteilen ist der Dortmunder somit wohl nicht nur ein optischer Freudenbringer, sondern auch ein flughafensicherheitstechnischer. Als ich das Studio für Body Modification betrete, habe ich mitnichten im Sinn, Herrn Buchholz nachzueifern. Sondern eher, auf dem Absatz kehrt zu machen. Kuchen im Rohr vergessen, Scheinwehen, dringendes Bedürfnis nach der Anfertigung von Steuererklärung. Völlig egal, was. Hauptsache, weg hier. Allein, ich darf nicht. Seit ewigen Jahren rede ich davon, mich piercen zu lassen. Behaupten meine Freunde, ich selbst meine ja, das ist erst neuerdings so. Seit also neuerdings bin ich der fixen Idee anheimgefallen, mir einen kleinen, glänzenden Stecker ins Ohr zu jagen. 

Nicht, dass da nicht schon welche wären. Wie so ziemlich jedes Mädchen meines Jahrgangs habe auch ich zwei asymmetrische Löcher in den Ohrwascheln. In die wuchsen goldene Marienkäferfüßchen erst schön hinein, um anschließend ebenso schön wieder heraus zu eitern. Auf die gleiche Art habe ich mir, kaum der elterlichen Verfügungsgewalt entwachsen, ein drittes antun lassen. Das ging damals so, dass man irgendeine windige Einrichtung in einem U-Bahn-Verteiler aufsuchte, 15 Mark auf den Tisch legte und fünf Minuten später wieder herauskam mit prall geschwollenem Ohr, das mit etwas bearbeitet war, das aussah wie das Gerät, das Opa zum Stanzen von Ledergürteln benutzte. 

Ich glaube nicht, dass es so eine Einrichtung heute noch gibt. Weiß nur, dass Piercer, also Menschen, die professionell Schmuckstücke in Menschenkörper hineintun, angewidert das Gesicht verzerren bei diesem Thema. So auch Oli. Oli führt seit 2006 ein Piercingstudio, das sich eines derart guten Rufs erfreut, dass die Wahl für mich außer Frage stand. Dazu kam der Weihnachten 2013 erhaltene Gutschein eines Freundes, „damit du das endlich machst und aufhörst, mir damit auf die Nerven zu gehen.“ Was ich gemacht habe, war, siebzehnmal kurz vor dem Studio rechtzeitig umzudrehen, ansonsten jeden Menschen, der sich des gleichen Ohrschmucks erfreute, wie ich ihn wollte, hochnotpeinlichen Befragungen zum in meinen Augen hochnotpeinlichen Vorgang zu unterziehen. 

Es ist nämlich so: Ich leide an einer völlig surrealen, spätinfantilen Schmerzangst. Muss meditieren, bevor ich mir ein Pflaster abziehe, dem vielleicht ein Armhaar anhaften könnte. War eher bereit, das sehr realistische Risiko einer postoperativen Thrombose einzugehen als das, mir tagtäglich eine Spritze geben zu müssen. Das bricht mir jetzt das Genick. „Du hast dir drei Monate lang selber eine Spritze gegeben, du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass Piercen schlimmer ist?“ herrscht mich besagter Freund an. Kurzen Prozess hatte der gemacht und, als alles Drohen, Zwingen und Beschimpfen nicht mehr half, die List „Geburtstagsgeschenk plus Freundschaftsaufkündigung“ angewandt. Deswegen bin ich jetzt hier. Puls: 280, grob geschätzt. 

Oli, seit 20 Jahren Profi und aktuell Träger von sieben Piercings, von denen er sich die meisten selbst gestochen hat, erweist sich erst als weniger, dann als mehr beruhigend geduldig mit mir. Das, was ich haben will, heißt „Tragus-Stab“. Einen Riesenvertrag muss ich ausfüllen: „Bitte beantworten Sie die folgenden Fragen wahrheitsgemäß. Falschangaben können zu gesundheitlichen Risiken führen und stellen eine Straftat dar.“ Deswegen gibt’s einen Anamnesebogen sowie ein ausführliches Gespräch. Dazu ist der Oli gesetzlich verpflichtet, sonst kann er belangt werden, wenn ich hinterher ein Blumenkohlohr habe. Was nicht passieren wird, sagt er. Was ich ihm nur zu gern glauben will, sämtliche andere Horrorgeschichten von Meridiandurchtrennung bis hin zur halbseitigen Gesichtslähmung fleißig ignorierend. Mit denen beglücken mich nämlich meine Freunde, kaum dass ich vom (erzwungenen) Entschluss Kunde tue. Mein Favorit jedoch: „Findest du nicht, dass du dafür ein bisschen zu alt bist?“ 

Nein, eigentlich finde ich das nicht. Ebenso wenig, wie ich finde, den nachdrücklichen Hinweisen gewisser Zeitungsredakteurinnen stattzugeben, ich möge mich doch zwengs des Spannungsbogens für ein Intimpiercing … Der Vertrag ist unterschrieben, von der kompletten Besprechung der Nachbehandlung höre ich ungefähr das: „Blabla Sonne blabla Sauna blabla Desinfektionsspray.“ Fühle mich ausreichend aufgeklärt. Folge Oli eine Treppe hinab in einen Kellerraum, in dem es auf einmal gar nicht mehr Tattoo-Stylo-Cool ist, sondern klinisch rein. Ein OP-Saal. Ähnlich den dort stattfindenden Vorgängen bereitet Oli gewissenhaft das sterile Besteck vor, während ich nicht minder gewissenhaft um mein Leben plappere. Zangen und Scheren und Tupfer liegen da, und die Kanüle, an deren Ende ein Plastikschlauch hängt, an dessen Ende später der Metallstab befestigt und an Ort und Stelle gezogen wird. 

Oli vermisst mein Ohr und markiert die Stelle. Das hätten die in dem Stanzladen damals mal besser auch so gemacht. Ich gucke. Schwarzer Winzpunkt auf angstzitterndem Ohrknorpel. „Das ist überhaupt null schlimm“, haben die Schmuckträger stets versichert. Und ich kein Wort geglaubt. Die Geschichte des Piercens dürfte etwa so alt sein wie die der Menschheit und handelt sich „neben der schmückenden Funktion meistens um die Abgrenzung zu anderen Volksstämmen, um spirituelle Rituale oder die symbolische Darstellung und Zelebrierung einer Veränderung der Reife oder des gesellschaftlichen Status“, sagt das Wikipedia. Mit einem davon werde ich mich schon identifizieren können, denk ich noch, als Oli plötzlich sagt, ich soll mich entspannen und ausatmen – eine Ansage, die mich prinzipiell misstrauisch macht und die Fäuste ballen lässt. 

Dann tut’s einen lauten Krach. Aber nur so eine Mysekunde. Dann nochmal atmen. Fertig. Fertig?! Ob’s mir gut geht, will der Oli wissen. Bestens geht’s mir, sag ich, und bin dann doch recht überrascht. Das Krachen, sagt Oli, war der Knorpel. Ob’s mir wirklich gut geht, auch so im Sitzen und Stehen? Ja, voll gut, sag ich und warte auf den Adrenalinschub, von dem gepiercte Menschen immer schwärmen, und dass das das wäre, was nachgerade süchtig macht. Der bleibt aber aus. Genauso wie die Gesichtslähmung. Wundere mich ein bisschen. Am meisten aber über mich selbst. Nie mehr Schmerzangst!