1 subscription and 1 subscriber
Article

Erinnerungskultur als „Entlastung der Deutschen von ihrer historischen Schuld" - Wiesbadener Kurier

Erinnerungskultur als "Entlastung der Deutschen von ihrer historischen Schuld" 

Der Antisemitismusforscher Max Czollek stellt im Café Klatsch in Wiesbaden sein Buch „Desintegriert euch!" vor, das Juden empfiehlt, sich vom bundesdeutschen „Gedächtnistheater" nicht vereinnahmen zu lassen.


Von Katharina Schuster 


Vielfalt statt Integration – das sei der Weg hin zu einer gelingenden Gesellschaft. Davon ist Antisemitismusforscher Max Czollek überzeugt. Im Café Klatsch las er aus seiner Streitschrift „Desintegriert euch!“, einem Schlachtruf der neuen jüdischen Szene und zugleich eine Attacke gegen die Vision einer alleinselig machenden Leitkultur.


Welcher Tage des Holocausts gedenken wir in Deutschland? Im Fokus stehen die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar und die Reichspogromnacht am 09. November. „Beides Tage, an denen Jüdinnen und Juden nur passiv am Geschehen beteiligt waren“, stellt Czollek fest und schaut in die Runde. Das Café im Rheingauviertel ist voll. Zwischen den Tischen haben sich einige Gäste einen Platz auf dem Boden gesucht. Um der Lesung, organisiert von der Jugendinitiative Spiegelbild, moderiert von Bildungsreferent Thure Alting, trotzdem folgen zu können.


Die Wiedergutwerdung der Deutschen bestätigen

Diese „Passivität von Juden in der Gedächtniskultur“ deute auf etwas hin: Nämlich darauf, dass Erinnerungskultur vor allem der nichtjüdischen Gesellschaft zugutekomme. Als „Entlastung der Deutschen von ihrer historischen Schuld“. „Ich habe das Gefühl, diese Art der Versöhnung hätten andere tun sollen, aber die sind tot“, stellt der 32-Jährige auf die Frage, was er von Stolpersteinen halte, weiter fest.

Ihm gehe es nicht um „die Abschaffung der Erinnerungskultur“, sondern um „die Art und Weise, die möglich gemacht hat, dass wir wieder stolz sein können auf Deutschland“. Die Thesen des Lyrikers sind radikal: Den Juden komme vor allem die Funktion zu, die „Wiedergutwerdung“ der Deutschen zu bestätigen und die Sehnsucht nach „Normalität“ zu befriedigen. Das habe Nationalismus und Antisemitismus mit sich gebracht.

Den Jüdinnen und Juden empfiehlt er deshalb, sich vom bundesdeutschen „Gedächtnistheater“ nicht vereinnahmen zu lassen. Sondern im Gegenteil: die Inszenierung zu beenden, sich zu „desintegrieren“. Ein guter Jude sei einer, der „stets zu Antisemitismus, Holocaust und Israel Auskunft gibt“. Doch dieses „Integrationstheater“ stabilisiere das Bild einer geläuterten Gesellschaft – während eine völkische Partei Erfolge feiere.

Max Czollek sucht in seiner Lyrik nach einer Erinnerungskultur, die Juden und Jüdinnen nicht nur als Opfer und Überlebende porträtiert. Um dies zu erreichen, müssten wir miteinander reden und vor allem streiten.
Original