Schon jetzt ist klar: Die Corona-Pandemie wird auch unsere Umgangsformen ändern. Ein Handschlag ist bereits ein Risiko, Wangenküsse zur Begrüßung sind kaum mehr vorstellbar. Ist das schön oder schade?
Anfang März begegnete ich zufällig einer Kollegin in der Stadt. Wir arbeiten gerne zusammen, wir verstehen uns, privat verbindet uns aber wenig bis nichts. Keine Feierabend-Drinks, nur selten gemeinsame Mittagspausen. Nun standen wir plötzlich voreinander, beide mit Tüten bepackt, beide nicht im Job-Modus, und noch während ich wie immer schlicht und freundlich „Hallo" sagte, setzte sie schon zu einer dieser halbseitigen Umarmungen an. So eine, bei der das Gegenüber mit einem Arm energisch an sich herangezogen und fest an den eigenen Körper gedrückt wird, seltsam unverbindlich und zugleich bestimmend, nicht ganz zugewandt und doch dafür sorgend, dass man einander verdammt nahe kommt. Der krönende Höhepunkt dieser Art von Umarmung ist nämlich ein angedeuteter Kuss auf die Wange.
Hölzern neigte ich mich nach vorne, tätschelte unbeholfen ihren Rücken und versuchte unauffällig (und erfolglos), meinen Hals so zu verrenken, dass unsere Wangen sich nicht berühren. Nicht aus Abneigung ihr, sondern aus Zuneigung mir und meinem ganz persönlichen Empfinden von zumutbarer Nähe gegenüber. Man muss nämlich nicht unter Berührungsphobie leiden, um nicht mit jedem Mitmenschen auf Tuchfühlung gehen zu wollen. Auf den verkrampften Klammergriff folgte der Smalltalk. Sie erzählte, ich nickte in regelmäßigen Abständen und überlegte derweil fieberhaft, wie wohl gleich die Verabschiedung ablaufen würde: Erwartete sie jetzt meinerseits eine Umarmung mit Wagenkontakt? Oder würde auch ein Tätscheln des Armes reichen? Und wie um alles in der Welt begrüßen wir uns nächste Woche im Büro?
Corona sorgte für die Antworten. Und dafür, dass meine Kollegin und ich einander fast nur noch auf Bildschirmen treffen. Seit in der analogen Welt noch nicht einmal mehr Händeschütteln erlaubt ist, muss niemand mehr Angst haben, andere durch Erstarrungs-Anfälle bei Umarmungen vor den Kopf zu stoßen. So fatal diese Krise in so vieler Hinsicht ist, so ehrlich gebe ich zu: dass man nicht mehr rätseln muss, was aus dem breiten Spektrum zwischen laschem Händedruck, fester Umarmung und mehr oder weniger vollendetem Kuss erwartet wird und wie man der einen oder anderen Variante elegant entkommen kann, das - ja - begrüße ich.
Wer jetzt meint, diese Haltung sei verklemmt, typisch deutsch und fürchterlich provinziell, verharrt selbst in Klischees. Engländer zum Beispiel können schon dem Händedruck nicht besonders viel abgewinnen, vor allem nicht dem festen und schon gar nicht zum Abschied. Auch in den Golfstaaten gilt als respektvoll, was wir ganz anders deuten, nämlich ein leichtes - oder besser gesagt: ein waschlappenlasches Handschütteln. Als zurückhaltend in Sachen Körperkontakt geltende Südkoreaner können einem durchaus überschwänglich um den Hals fallen. Und längst nicht jeder Italiener wirft zur Begrüßung mit Küsschen links und rechts um sich.
Küsschen sind sowieso eine ganz besonders heikle Angelegenheit. Werden Luftküsse gehaucht oder echte Schmatzer verteilt? Was ist unhöflicher: kurz vorm Hautkontakt in hartnäckige Starre zu verfallen oder Wange an Wange zu drücken? Welche Seite kommt zuerst? Wie viele Küsse allein wegen dieser Unklarheit wohl schon auf Lippen statt auf Wangen gelandet sind! Das kann entweder der Startschuss für viele weitere Küsse werden - oder in Peinlichkeit münden. Und überhaupt, welche Gesamtzahl an dahingehauchten Küssen peilt mein Gegenüber eigentlich an? Wenn es nach mir ginge: gar keine. Zumindest nicht bei Menschen, bei denen ich über Anzahl und Intensität nachdenken muss. Wenn man jemandem nahesteht, regelt der Instinkt die Innigkeit der Begrüßung. Und wenn es wirklich passt zwischen Menschen, kann man über missglückte Umarmungs-Kuss-Handschlag-Manöver reden und vor allem: zusammen lachen, wenn die Köpfe doch mal zusammenstoßen oder die Lippen aufeinander landen.
Neben all ihren erschreckenden und traurigen Folgen erlöst uns die verordnete Distanz für eine Weile von solchen Grübeleien. Und von den Machtspielen des ritualisierten Körperkontakts. Nicht erst seit den Patschehand-Attacken von Donald Trump ist der Handschlag (und dessen Verweigerung) immer auch Politikum, kann eine Umarmung zwischen Vorgesetzter und Mitarbeiterin auch ausdrücken: „Wir sind eine Allianz." Aber auch: „Ich hab dich im Griff." Zwischen einer ergreifenden und einer übergriffigen Geste liegen oft nur Sekunden. Gerade in dieser Distanz, aktuell eine der größten emotionalen Herausforderungen, steckt die Chance zum ultimativen Neustart, zu einer Renormalisierung von Begrüßungs- und Abschiedsritualen. Alles geht zurück auf null, wird neu verhandelt. Na ja, fast alles. Meine einarmig, aber beherzt zupackende Kollegin schloss erst vor wenigen Tagen eine Mail an mich mit den Worten: „Fühl dich fest umarmt, dicker Kuss!"
Wer kennt das nicht? Die zarte Kopfnuss mit Italienern, weil die halt auf der linken Seite anfangen. Der Schwindel, wenn die Schweizerin erst nach dem dritten Kuss aufhört. Der kurze Moment Peinlichkeit, wenn man beim Begrüßungskuss spürt, dass das Gegenüber den als eher übergriffig oder zumindest zu intim empfindet. Oder auch umgekehrt: Man streckt die Hand zum Gruß, während der gespitzte Mund des Gegenübers schon vorschnellt - und beide Seiten fühlen sich blamiert. Selbst Fans der herzlichen Lebensart müssen zugeben: Die geküsste Begrüßung ist nicht immer ganz leicht. Was erschwerend dazu kommt: die kalte Verachtung von Mitmenschen, für die der Begrüßungskuss eine oberflächliche, frivole Lebensart symbolisiert.
Die sprichwörtliche Bussi-Bussi-Gesellschaft ist ideengeschichtlich in München verortet, wurde in den 80ern von Helmut Dietl in der Fernsehserie „Kir Royal" verewigt, und ihr Begrüßungsritual hat sich seitdem weit verbreitet. Aber vielen Deutschen ist es so suspekt geblieben wie eine Flasche Weißwein, die mehr als zehn Euro kostet.
Und man spürt die gar nicht klammheimliche Freude, dass einer der Kollateralschäden der Pandemie größere Distanz sein wird. Eine Kanzlerin, die ihren Kollegen Macron mit zwei bisous begrüßt? Schwer vorstellbar. Sie kann in Zeiten des social distancing ja nicht mit schlechtem Beispiel voranküssen.
Auf die Frage der WELT AM SONNTAG, wie sie das in Zukunft handhaben will, verweist das Kanzleramt auf die Pressekonferenz vom 9. April, in der Merkel sagte: „Viel (...) wird davon abhängen, ob die Menschen sich weiterhin die Hände waschen, ob sie sich nicht die Hand geben." Selbst wenn es also wieder Staatsbesuche gibt, dürfte es dabei deutlich distanzierter zugehen.
Möglichkeiten gibt es genug. Unproblematisch ist keine davon. Beide Hände vors Herz und leichte Verbeugung, wie man es aus Asien kennt - das wirkt für Deutsche ein bisschen devot. Sanft die Ellenbogen gegeneinanderstoßen - das ist die Entsprechung zur Gettofaust, fühlt sich also jugendlich und locker an. Aber die besser Erzogenen niesen und husten in ihre eigene Armbeuge, man kommt den potenziellen Viren also näher, als einem lieb sein kann. Klar ist: Irgendeine kussfreie Lösung wird man schon finden.
Ich persönlich bedauere das sehr. In meiner Kindheit haben sich die Menschen nicht geküsst zur Begrüßung, auch nicht in dem linksliberalen Milieu, in dem ich groß wurde. Als ich nach der Schule ein Jahr in Madrid lebte, lernte ich einen Alltag kennen, dem gegenüber die traditionelle deutsche Äquidistanz einfach nur freudlos und steif wirkte.
Damit bin ich vermutlich nicht der Einzige. (...)
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