Makellosigkeit ist für viele Koreaner ein hohes Gut. Das Pflegeprogramm gestaltet sich entsprechend aufwendig. Eine Schönheitsreise nach Seoul.
Die Luft in der überfüllten Wartehalle am Istanbuler Flughafen ist stickig, Sprachgewirr übertönt die Lautsprecherdurchsagen. Eine türkische Großfamilie versucht, Koffer und Kinderschar an einer Schlange ungeduldiger Passagiere des Flugs nach Moskau vorbeizulotsen, ein verschwitzter Herr im Dreiteiler kämpft mit einer jungen Frau im Ariana-Grande-Gedächtnislook um die einzige Steckdose, die noch frei ist: Laptop gegen Smartphone, Excel-Tabelle gegen Snapchat.
Durch das reisefiebrige Gewühl schreitet plötzlich eine Gestalt, eher eine Erscheinung, so grazil und makellos schön, als wäre sie direkt aus einem der Modemagazine geklettert, die am Kiosk ausliegen. Ihr langes, schwarzes Haar fällt trotz des fast subtropischen Klimas der Abflughalle bei jedem Schritt duftig und voluminös über die zarten Schultern, die von einem schlichten Trenchcoat bedeckt sind. Aus schräg geschwungenen Augen schaut sie unbeeindruckt, fast entrückt, an all der Hektik vorbei.
Bewundernde, neidische, überraschte Blicke der Vorbeigehenden. Sie scheint sie gar nicht zu bemerken. Nicht nur ihr Haar, ihr Outfit und ihre schönen Augen lassen diese junge Frau herausstechen - es ist vor allem: ihre Haut. Hell ist sie, fast weiß, strahlend rein und ohne jeden Makel. Als hätte gerade eben noch ein Retuscheur mit dem Photoshop-Pinsel ihr Gesicht bearbeitet.
Wer je an dunklen Augenringen, Hautunreinheiten oder Falten verzweifelt ist und halbe Drogerien leergekauft hat, um den immer neuen Überraschungen beim morgendlichen Blick in den Spiegel zuvorzukommen, erahnt die Faszination, die ein lebendes Beispiel für mustergültigen Teint ausübt. Genau den hat diese asiatische Schönheit. Deshalb trägt sie auch kein Make-up, auch keines, das nach stundenlangem Einklopfen und Verblenden einen vermeintlich frischen Look in ein müde-fahles Gesicht zaubert. Abdeckstift, Foundation, Puder - von alledem ist nichts in dem zarten Antlitz zu sehen. Die Makellose steuert auf einen jungen Mann zu, dessen Outfit direkt aus einer Prada-Kampagne zu stammen scheint. Wir alle warten darauf, ins Flugzeug nach Seoul einzusteigen. Die Hauptstadt Südkoreas ist der Geburtsort des K-Pop, dieses zuckersüßen und milliardenschweren Musik- und Filmuniversums, und das Epizentrum der KBeauty. Die südkoreanische Schönheitsindustrie ist in der ganzen Welt bekannt für Kosmetik- und Pflegeprodukte, die perfekte Haut versprechen, so wie sie die makellose Schönheit hat. Europäische und amerikanische Hersteller kopieren solche Ideen nur allzu gern.
In Seoul wurde nicht nur die BB-Creme erfunden, eine Mischung aus Feuchtigkeitscreme und Grundierung, sondern auch das Cushion-Make-up. Sieben Jahre, nachdem der südkoreanische Konzern Amorepacific das Patent der mit Foundation durchtränkten Schwämmchen entwickelt hatte, brachte die L'Oréal-Tochter Lancôme 2015 seine Miracle-Cushion-Foundation auf den Markt. Dem fernöstlichen Innovationsgeist verdanken wir auch Schnappschüsse von Diane Kruger mit Sheet-Maske im Gesicht. Die Masken aus hauchdünnem Vlies erinnern zwar an Halloween-Gruselschocker - ihre reinigende und pflegende Wirkung aber ist gar nicht gruselig.
Perfektes Aussehen ist in Südkorea wichtig. Frauen geben hier einen doppelt so großen Anteil ihres Einkommens für Kosmetik und Hautpflege aus wie in den Vereinigten Staaten. Das Land, in dem gerade einmal 51 Millionen Menschen leben, hat im internationalen Vergleich die dritthöchste Rate an Schönheitsoperationen und liegt direkt hinter Amerika und Brasilien, die jeweils mehr als vier Mal so viele Einwohner haben. Die tägliche Schönheitsroutine südkoreanischer Frauen umfasst oft bis zu zehn Schritte. Und das morgens und abends. Da wird gereinigt und gepeelt, mindestens ein Serum, Feuchtigkeitslotionen und Masken aufgetragen. Die Herren, vor allem die jüngeren, eifern männlichen K-Pop-Stars wie dem Schauspieler Lee Joon oder dem Musiker Psy nach, der 2012 mit „Gangnam Style" einen Welthit landete und schon als Model für Gesichtscremes vor der Kamera stand. Die Pflege der Herren beschränke sich, so hört man, auf nur vier Schritte.
All dieser Aufwand, und das jeden Tag - ob das wohl stimmt? Das zeigt sich im Flugzeug. Gerade erst hat meine Sitznachbarin unter Verbeugungen neben mir Platz genommen, da packt sie auch schon Wattepads und Mizellenwasser aus, reinigt ihr Gesicht und betupft es konzentriert mit einer Lotion - unbeobachtet von den anderen Passagieren, mit Ausnahme meiner nur notdürftig versteckten Neugier. Die südkoreanischen Passagiere sind selbst mit ähnlichen Prozeduren beschäftigt. Das Bedürfnis, möglichst niemanden die eigene Eitelkeit erahnen zu lassen, existiert offenbar nicht. Irgendwann wird es still. Lauter wohlduftende Menschen verschwinden für die kommenden Stunden hinter ihren Schlafmasken.
Am nächsten Morgen verfliegen auch die letzten Zweifel an der südkoreanischen Schönheitsdisziplin. Links und rechts von mir wird wieder gesprüht, getupft, gecremt und das Ergebnis im Spiegel geprüft. Dann setzt das Flugzeug auch schon auf: Willkommen in Seoul!
Über dem Gepäckband prangt eine riesige Werbetafel für irgendetwas, das potentielle Käuferinnen so schön wie das Model machen soll, das dank Photoshop natürlich überirdisch schön ist. Es ist der ideale Ort für eine solche Werbung. Denn nach zehn Stunden Flug fühlt sich niemand strahlend schön und frisch, Reinigung hin oder her.
Wie praktisch, dass schon an der Zugstation des Flughafens Incheon neben einem Zeitschriftenstand ein ganz in Rosa und Pink dekoriertes Geschäft mit Lipgloss, Reinigungswässerchen und Cremes lockt. Die Zugfahrt nach Seoul fällt in die Rush-Hour, und auf den schier unendlich langen Rolltreppen des zentralen Bahnhofs der Stadt ist zum ersten Mal die Kulisse zu sehen, vor der sich die kommenden fünf Wochen abspielen werden: Eine neben der anderen stehen da zierliche Gestalten in Outfits, die von Kopf bis Fuß perfekt durchdacht sind.
Die Farben sind gedeckt, die Accessoires schlicht. Unbedacht oder gar nachlässig gekleidet ist hier niemand. Die Maxime: Weniger ist mehr. Während die Kardashians dieser Welt sich dicke Striche ins Gesicht malen, die Augenbrauen darstellen sollen, und mit mehreren Highlighter-Schichten kaum subtile Akzente auf Wangenknochen und Nasenspitzen setzen, gilt hier ein Make-up erst dann als perfekt, wenn es nicht als solches zu erkennen ist.
Die dafür nötigen Utensilien gibt es in Myeong-dong, dem zentralen Shoppingbezirk von Seoul. Hier reihen sich die Läden großer Modeketten aneinander und die Geschäfte für Kosmetik- und Pflegeprodukte, die nicht weniger mit deutschen Drogerien zu tun haben könnten. Die Kette Innisfree lädt mit einem Interieur in Naturtönen und futuristischen Deckeninstallationen ein, Etude House wartet mit pinkfarbener Puppenhaus-Atmosphäre auf, und bei Laneige ist der Name Programm: Cremetiegel, Puderpinsel und Masken werden in schneeweißem Ambiente ins gleißende Licht gerückt.
Überall in Seoul sind Filialen dieser drei Unternehmen der Amorepacific-Group zu finden, eines der 20 größten Kosmetik-Konzerne der Welt. Nirgends aber ist ihre Dichte so hoch wie in Myeong-dong. Über den endlosen Straßenzügen flackern an den Fassaden der Hochhäuser riesige LED-Bildschirme, auf denen weibliche und männliche Models die neuen Beauty-Produkte anpreisen. Das alles wirkt wie eine fiebertraumartige Mischung aus „Blade Runner" und „Bibis Beauty Palace".
Ohne Koreanisch-Kenntnisse bleiben Besucher oft im Ungewissen, was genau da eigentlich beworben wird. Die Mitarbeiter der Schönheits-Shops aber wissen genau, worauf Touristen neugierig sind: „Snail, snail, come in and try some snail", rufen sie Vorübergehenden lächelnd zu. Südkoreanische Kosmetik ist nicht nur für Innovationen bekannt, sondern auch für, vorsichtig formuliert, ungewöhnliche Inhaltsstoffe wie Schneckenschleim.
Ja, Verkaufsschlager der in süßem Rosa und strahlendem Weiß dekorierten Schönheitstempel sind Cremes und Masken mit Schneckenschleim. Er soll die Zell-Erneuerung im Rekordtempo anregen. Wem das zu weit geht, der kann auf hautstraffendes Schweine-Kollagen oder faltenminderndes Bienengift ausweichen. Chinesische Touristen lieben die tierischen Wundermittel, deshalb beherrschen immer mehr Mitarbeiter zumindest einige Worte in der Sprache der begehrten Kundschaft.
Die Bedeutung der Schönheitsindustrie für die Wirtschaft im Land ist enorm. Das hat auch politische Gründe. In den neunziger Jahren bekam Südkorea vom Internationalen Währungsfond ein Darlehen von 21 Milliarden Dollar, um seine Wirtschaft nach der Asienkrise wieder aufzubauen und zu diversifizieren. Das tat die Regierung, indem sie unter anderem die Unterhaltungsindustrie stärkte. Die Initiative fiel so nachhaltig aus, dass südkoreanische Filme, Fernsehserien und Popmusik bis heute den asiatischen Raum überfluten. „Hallyu", koreanische Welle, heißt dieses Phänomen in der Landessprache.
So entstand die knallbunte K-Pop-Welt, deren Stars wie ihre Hollywood-Kollegen zu Stilvorbildern wurden. Die Fans wollen so schön sein wie ihre Idole. Und diese Fans sind mittlerweile über die ganze Welt verstreut: Die Vereinigten Staaten sind der drittgrößte Exportmarkt für südkoreanische Schönheitsprodukte, nach China und Hongkong. Einige Sephora-Filialen in New York haben K-Beauty-Abteilungen, unzählige deutsche Onlineshops liefern koreanische Kosmetik.
Der Luxuskonzern LVMH, zu dem Marken wie Benefit und Dior gehören, kaufte sich 2016 beim südkoreanischen Unternehmen Clio Cosmetics ein, Unilever 2017 beim Konkurrenten Carver Korea. Auch die Regierung selbst mischt mit: 2013 eröffnete das Ministerium für Entwicklung der Gesundheitsindustrie (KHIDI) einen temporären Pop-up-Store im Londoner Szeneviertel Soho unter dem Namen „Korea Cosmetic Bliss".
D er von ganz oben verordneten Schönheit kann sich kaum jemand entziehen. Auch die Männer nicht. In keinem anderen Land der Welt geben sie so viel Geld für Pflegeprodukte aus wie in Südkorea. Stundenlang stöbern sie in den Shops von Myeong-dong zwischen Cremes und Concealern. Das will nicht recht passen zu einer Gesellschaft, die in Geschlechterfragen als konservativ gilt.
Noch verwirrender klingen die Begründungen für das männliche Interesse an Kosmetik. Ausgerechnet der zwei Jahre dauernden Wehrpflicht ist es geschuldet. Das sind zwei Jahre, in denen sich die jungen Männer, die in einer von Schönheits- und Jugendwahn geprägten Gesellschaft aufgewachsen sind, für Militärübungen billige Tarnfarbe in die zarten Gesichter schmieren und bei jedem noch so extremen Wetter ihren Dienst tun müssen. Vielen bereitet vor allem die Sonne große Sorge. Schließlich gilt nicht nur reine Haut als Schönheitsideal, möglichst hell soll sie auch noch sein. Da liegt es nahe, dass Innisfree Gesichtsmasken mit so klangvollen Namen wie „Before going on leave", „After military training" und „After field work" anbietet. Die beruhigende Creme beruhigt die Psyche der jungen Männer, die erst zwei Jahre später als ihre Altersgenossinnen ins Berufsleben starten - und dabei so gut wie möglich aussehen wollen. Schönheit wird in Südkorea mit Perfektion gleichgesetzt: Models, die trotz oder gerade wegen vermeintlicher Makel erfolgreich sind, sieht man hier ebenso wenig wie Menschen mit Übergewicht.
Je zierlicher die Figur, desto besser. Umso überraschender ist der Anblick, der sich in Gangnam bietet, dem Szeneviertel, auf das Psy vor fünf Jahren seine satirische Party- Hymne sang. Ob bei McDonald's, Starbucks oder in Filialen der Patisserie-Kette Paris Croissant: Überall sitzen sehr schlanke Gestalten vor sehr großen Milchshakes, Karamell- Macchiato-Bechern und Macaron-Etageren. Wenn sie nicht gerade in Gespräche vertieft sind, Lachanfälle haben oder an Zuckerbomben nippen, frischen die weiblichen Gäste ihr Make-up mit großer Unbefangenheit in aller Öffentlichkeit auf. Vielleicht sind sie so schlank, weil sie über dem Schminken das Essen vergessen?
Das erklärt aber noch nicht, warum der Alkoholkonsum, der zu den höchsten der Welt gehört, keine sichtbaren Spuren zu hinterlassen scheint. Nach Feierabend mit den Kollegen und dem Chef zu trinken ist Teil der Unternehmenskultur. Gegen den Kater am nächsten Morgen hilft verordnete Gymnastik. Wer früh genug durch die Straßen spaziert, entdeckt hinter den Glasfassaden von Bürotürmen, Autohäusern und Boutiquen ganze Belegschaften bei kollektiven Kniebeugen.
Und da ist ja auch noch das südkoreanische Essen, das überall als Superfood und Schönheitselixier gefeiert wird. Das an Sauerkraut erinnernde Kimchi etwa wirkt probiotisch und fördert eine schlanke Linie. Die traditionelle Küche enthält kaum Milch, dafür aber massenhaft fermentiertes Gemüse und Algen mit vielen Vitaminen und Spurenelementen, die zu einer Verbesserung des Hautbilds beitragen. Das belegen nicht nur zahlreiche Studien. Nach fünf Wochen und unzähligen Portionen Kimchi ist auch meine eigene Haut weniger gereizt. Nach dem gesunden Essen erlauben sich dann selbst disziplinierte Südkoreaner zum Dessert fluffig-knusprige Macarons und starken Kaffee. Nicht umsonst nennt man sie die Italiener Asiens.
Schönheit also ist in Südkorea vor allem das Resultat strenger Disziplin - und ein sehr eng gefasster Begriff. Perfektion ist das Ziel, auf das stets hingearbeitet wird. Auch beim Abflug aus Seoul. Eine junge Frau hat die obligatorische Reinigungsprozedur schon im Waschraum des Flughafens absolviert und besteigt mit Pflegemaske im Gesicht das Flugzeug. Diesmal kann ich niemanden bei der Schönheitspflege beobachten. Ich bin nämlich viel zu sehr mit meiner eigenen beschäftigt.