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Handschuhe im Frühling: Verhüllung steigert Verlangen

Es ist jetzt wieder so weit. Wenn die Vögel lauter zwitschern, die Blumen zarte Knospen tragen und die Temperaturen zweistellige Dimensionen erklimmen, wird kollektiv Abschied genommen. Dann verschwinden all die Begleiter, die einem monatelang das Körpergefühl eines Michelin-Männchens verliehen haben, ganz hinten im Kleiderschrank: Dicke Wollmäntel und Daunenjacken, voluminöse Schals und Ponchos, die Frisur herausfordernde Mützen und Stirnbänder und natürlich Handschuhe müssen nun nicht mehr gegen schneidende Kälte und eisige Winde schützen. Der Frühling ist da. Endlich.


Manchen aber jagt diese Aussicht eiskalte Schauer über den Rücken. Denn für wahre Freunde der Hygiene verheißt der nahende Frühling vor allem direkten Kontakt - mit Türklinken und Treppengeländern in öffentlichen Gebäuden, mit Haltegriffen in Bussen und Bahnen, mit Tasten von Bankautomaten, den Griffen von Einkaufswagen. Sobald die Handschuhzeit vorüber ist, lassen sich im Alltag wieder Vermeidungsstrategien beobachten: Da werden Türen mit Ellenbogen aufgedrückt, Taschentücher zum Eintippen der PIN hervorgezaubert, öffentliche Verkehrsmittel zur Bühne für beeindruckende Balanceakte umfunktioniert. Hauptsache, nichts anfassen, lautet die Devise.


Auf diese Kleinkunst im Dienste der Keimfreiheit konnten vor allem die Damen bis in die frühen sechziger Jahre getrost verzichten. Da gehörten Handschuhe nämlich noch das ganze Jahr lang zum Outfit. Grace Kelly trug am liebsten lange Modelle aus weißem Satin, wenn sie nicht gerade mit der sportlichen Variante an den zarten Händen das Cabrio durch die Serpentinen über den Dächern von Nizza lenkte. Schwarze Handschuhe ließen Marlene Dietrich und später Audrey Hepburn noch verführerischer an Zigaretten ziehen, und Jacqueline Kennedy machte weiße Handschuhe in jeder Länge legendär. Den Filmdiven und First Ladys wurde natürlich nachgeeifert, und so holen nicht wenige Großmütter, auf das damalige Must-have angesprochen, mit verzücktem Lächeln und leisem Stolz hauchdünne Seiden- und Ziegenleder-Handschuhe hervor.


Mit den Swinging Sixties verschwanden sie aus dem Alltag und waren fortan für den Winter reserviert. Alles andere galt als affektiert und altmodisch. Was war passiert? „In den Sechzigern wandelte sich das Schönheitsideal", erklärt Angelika Riley, Kuratorin der Mode- und Textilsammlung des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe. „Lange hatte man sich an einem sehr damenhaften, eleganten Stil orientiert, nun wurde Jugendlichkeit zum Ideal." Die Frauenbewegung tat ein Übriges: Hüte, züchtige Röcke und Handschuhe - alles, was für Konvention und damenhafte Etikette stand, galt jetzt als einengend und überholt. Heute werden Handschuhträgerinnen jenseits von Minusgraden, Hochzeiten, Kostümpartys und den eher seltenen Besuchen auf großen Preisverleihungen im besten Fall für ihren Mut zum Retrocharme gelobt, meist aber belächelt.


Schade, findet Viktoria Wilkens, 33, die anders als die meisten ihrer Altersgenossinnen täglich mit Handschuhen zu tun hat. „Vor allem junge Frauen trauen sich nur selten, jenseits des Winters zu Handschuhen zu greifen. Dabei gehören sie zu den schönsten Accessoires überhaupt", sagt Wilkens. Seit 2013 leitet sie in Magdeburg Handschuh-Schmidt, eine der wenigen Manufakturen in Deutschland, die Handschuhe maßanfertigen. Ein Unternehmen mit Tradition: Wilkens trat vor drei Jahren in die Fußstapfen ihres Großvaters Claus Schmidt, der das Geschäft 1955 gemeinsam mit seinem Vater gründete.


Nun führt sie die Manufaktur in die Zukunft. Mit individuell entworfenen Lederhandschuhen, die mal in Knallpink, mit Kaschmir gefüttert und mit Schleifen verziert, mal ganz schlicht und klassisch in schwarzem Hirschleder daherkommen. „Wir fertigen überwiegend für den Herbst und Winter an", sagt Wilkens, doch immer öfter nehmen sie und ihre Angestellte auch Bestellungen für Handschuhe zum Cabrio-Fahren und für den Reit- und den Golfsport auf: „Handschuhen fürs Autofahren widmen wir dieses Jahr eine ganze Linie."


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