Wovon leben wir? Auf den ersten Blick wirkt die Frage so einfach und selbsterklärend. Auf den zweiten
Blick fällt dann aber schnell auf, dass ein verzweigtes System an Fragen und Antworten entsteht. Folgen
wir unserem Erzähler auf seiner Suche nach Antworten und lassen uns damit zum Neu- und Selberdenken einladen.
Von Katharina Lipowsky und Johannes Pernack
GRUNDLEGEN
Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es noch ein paar Stunden bis zu meinem Vorstellungsgespräch zu überbrücken gilt. Das nasskalte Wetter spricht in jedem Fall dagegen, die Zeit für einen kleinen Spaziergang durch das ofensichtlich eher schickere, mir aber vollkommen unbekannte Viertel der Stadt zu verwenden. Wegen meines wichtigen Termins habe ich mir heute einen besonders frühen Zug ausgesucht und suche nun nach Möglichkeiten, die verbleibende Zeit so angenehm wie möglich zu verbringen. Da es wirklich ungemütlich kalt ist, entscheide ich mich, nach einem Café zu suchen, in dem ich mich ein wenig ablenken und aufwärmen kann. Außerdem hat ein Kommilitone, der sich vor einiger Zeit auch auf genau diese Stelle beworben hatte, erwähnt, dass ich mich auf ungewöhnliche Fragen einstellen soll. Er wurde damals neben anderen persönlichen Dingen auch danach gefragt, was für ihn in seinem Leben der Begriff Nachhaltigkeit bedeute und was für ihn ein glückliches Leben sei.
Mit etwas Glück finde ich dann auch schnell ein kleines, von außen sehr gemütlich aussehendes Café und trete ein.
Augenaufschlag
Es fällt mir auf, dass dieser Laden einen eher szenigen und trendigen Touch hat. Die Espressomaschinen sind auf Hochglanz poliert, die Kundschaft wirkt alternativ, ist beim näheren Hinsehen aber auffallend teuer gekleidet. Ich stelle mich an den Baristatresen und lese mir die mit Kreide beschriebene Tafel durch, auf der sämtliche Kafeespezialitäten aufgelistet sind. Vor mir bestellt gerade eine junge Frau in einem schwarzen Parka und Leopardenleggins, dazu trägt sie Stiefel mit mindestens sieben Zentimeter langen Absätzen und eine braune Tasche in Krokodillederoptik, aus der mich zu allem Überluss ein kleiner Chihuahua ankläft. „Einen French Vanilla Nut Cappuccino mit fettarmer Milch zum Mitnehmen bitte“. Bei ihrer Bestellung wippt sie unruhig mit der Spitze ihres Schuhs auf und ab. Hinter ihr überlege ich, was ich wohl wählen könne und werde mir schnell darüber bewusst, dass ich sie an Exklusivität wohl schwerlich ausstechen werde. Nachdem die Leopardendame ihr Getränk erhalten hat, verschwindet sie klackernd aus dem Café, aber nicht, ohne sich noch in einem der Spiegel im Eingangsbereich zu betrachten und sich ein wohlwollendes Lächeln zuzuwerfen. Auch eine Art, sich den Tag zu verschönern, denke ich, bestelle mir eine Latte Macchiato und schaue mich suchend nach einem Platz um. Im hinteren Teil des Cafés sehe ich einen noch freien, gemütlich aussehenden Ohrensessel.
Ein Lidschlag später
Ich lehne mich in dem mit gedeckten Farben bestickten Sessel zurück und schaue mit meinem dampfenden Kaffeeglas in der Hand aus dem Fenster. Auf der anderen Straßenseite ist ein Stand einer Initiative für Umweltschutz aufgebaut. Drei junge Freiwillige springen vorbeihastenden Passanten entgegen, während diese erschrocken auszuweichen versuchen und anschließend mit einem leichten Kopfschütteln weiterlaufen. Auch die Leopardendame zieht an ihnen vorbei, hebt aber schon von weitem abwehrend ihre Hand. Einer der Drei geht dennoch direkt auf sie zu und will sie aufhalten. Ihr Gesicht verzieht sich und sie macht einen besonders großen Bogen um den Stand. Ich muss über den Enthusiasmus der Drei schmunzeln, mit dem sie uns über die Schäden, die wir unserem Planeten zufügen, informieren wollen. Dabei kommen mir plötzlich die Bilder vor Augen, die während und nach der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen im Dezember 2009 so zahlreich in den Medien zu sehen waren.
Wo bleibt die klare Sicht?
Klimawandel, Energiekrise, Erziehung zur Nachhaltigkeit, ökologischer Fußabdruck. Die Schlagwörter und Zeitungsaufmacher sind doch Grund genug, es geht bei allen Umweltthemen schließlich um wirklich Grundlegendes für unser Leben. Wir leben von und mit unserer Umwelt; mit ihren Veränderungen verändern sich auch unweigerlich unsere Lebensumstände, war das denn den Politikern nicht deutlich genug? Und wenn doch, warum gab es kein populäreres Ergebnis des Gipfels? Die Hoffnungen, die in Kopenhagen gesetzt wurden, sind nicht erfüllt worden, soviel ist mir noch in Erinnerung geblieben. Dennoch sind die großen Klimagipfel immer ein Symbol, eine Mahnung an unsere Konsumgesellschaft. Und diese Mahnung wird uns dann, zumindest für die Gipfeldauer, durch die große Medienpräsenz klar vor Augen geführt. Die Auswirkungen des Klimawandels sind nicht mehr zu übersehen und sie werden sich den Prognosen nach noch viel drastischer zeigen, wenn sich in Zukunft nichts ändert. Wir sind uns eigentlich darüber bewusst und jeder Einzelne sollte sich verpflichtet fühlen, etwas zu einer Veränderung beizutragen.
Doch, denke ich bei einem Blick auf die vorbeiziehenden Menschen und die nur noch als kleinen Punkt zu sehende Leopardendame draußen auf der Straße, diese Themen sind für uns trotz allem viel zu weit von der täglichen Lebensrealität entfernt. Uns geht es doch oft nur darum, unsere alltäglichen, akuten Bedürfnisse zu befriedigen. Und das ist häufig schon eine sehr einnehmende Aufgabe, vor allem, weil wir in einer Konkurrenzgesellschaft leben. Dabei denke ich besonders an die Berufswelt und die Veränderungen an Schulen und Universitäten. Nur durch einen pausenlos andauernden Prozess, in dem wir uns ständig weiterentwickeln und verbessern, haben wir die Möglichkeit, unsere Ziele zu erreichen und uns von anderen abzuheben oder einfach nur auf gleicher Höhe zu bleiben. Versperrt uns diese ständige Leistungsorientierung in manchen Dingen die Sicht? Und dabei ist das ja nicht das Einzige, was unser tägliches Denken bestimmt. Neben der Zeit, die wir in die Umsetzung unserer beruflichen Aufgaben und Ziele investieren, bestehen noch viele weitere alltägliche Bedürfnisse. Zum Beispiel unsere Freunde und Familie, um die wir uns kümmern, vielfältige soziale Kontakte, die wir pflegen wollen. Ich rutsche tiefer in meinen Ohrensessel. Natürlich sind all diese Dinge in unserem Leben wichtig. Wir leben von dem Lohn der Arbeit, den beruflichen Aufgaben und bestimmt von den Beziehungen zu unseren Mitmenschen. Aber trotzdem stellt sich mir immer noch die Frage: Versperren uns diese naheliegenden Bedürfnisse und Anforderungen manchmal den Blick auf andere, sehr grundlegende Dinge, die wir zum Leben brauchen, die uns aber nicht immer direkt spürbar oder bewusst sind?
Die Umweltaktivisten da draußen, setzen sie sich nicht für eine solche Grundlage ein, von der wir alle leben, die aber bedroht ist? Warum lässt uns dies häuig so kalt, warum springen wir gerne vor diesem Thema weg wie die Passanten auf der Straße? Warum winken wir wie die Leopardenlady ab, weichen aus? Ist uns denn nicht klar, wovon wir eigentlich leben? Ist mir eigentlich bewusst, wovon ich lebe?
Einblicke
Meine Gedanken kreisen um diese Frage und ich versuche, sie mir zu beantworten. Mir fallen sofort eine Menge Dinge ein, von denen ich mir sicher bin, dass ich von ihnen lebe: Sauerstoff, Wasser, Nahrung, Liebe, Zuneigung, Geld, Aufgaben, die meinem Leben Sinn geben, Glauben, Bewegung, Erholung, Gesundheit, den Genen meiner Eltern und Vorfahren, den sozialen Verhältnissen, in die ich hineingeboren bin. Gleiches gilt für das politische System, die Kultur, die Gesellschaft, die Religion. Natürlich lebe ich auch von der Geschichte, von dem, was mir andere Generationen hinterlassen, überlassen, übergeben, mitgegeben haben. Mir fällt so viel ein. Es gibt sicher nicht die Antwort, sondern verschiedene, mitunter entgegengesetzte. Ich lebe von sehr vielen Dingen. Könnte ich auf einige davon verzichten? Das kann ich nicht genau sagen. Ein paar Dinge scheinen mir aber existenzieller als andere zu sein. Ohne sie kann ich definitiv nicht leben, zum Beispiel ohne die Luft zum Atmen. Aber wie ist es mit Arbeit? Ich stelle es mir momentan schön vor, einmal richtig lange Urlaub machen zu können, ohne den Stress und Druck meiner Arbeit, den Prüfungen, den Bewerbungen, aber kann ich auf Dauer ohne leben? Unabhängig vom Geld, wie sehr brauche ich die Aufgaben, die Anforderungen, die Erfüllung, die mir eine Arbeit gibt? Ich ahne an dieser Stelle, dass es wahrscheinlich noch sehr viel schwieriger und komplexer sein wird, wenn ich den Antworten auf die Frage nachgehen will, wovon wir, wir als Gesellschaft leben. In einer Gesellschaft, die sich zwar aus vielen Einzelnen zusammensetzt, sich aber scheinbar mehr und mehr individualisiert und fragmentiert (ich muss an den Vanilla Nut Cappuccino mit fettarmer Milch denken), wer- den definitiv nicht alle Menschen diese Frage gleich beantworten. Zudem leben wir in einem regelrechten kulturellen Melting-Pot, der sich außerdem noch im demographischen Wandel befindet.
Eine Beantwortung scheint dann, wahrscheinlich noch mehr als bei anderen Fragen, vollkommen von der gewählten Perspektive abzuhängen. Gut, einige Dinge, von denen wir leben, werden übereinstimmen, denn unser Organismus braucht nun einmal den Sauerstoff, das Wasser und die verschiedensten Bestand- teile unserer Nahrung. Gleichermaßen werden viele auch ein bestimmtes Mindestmaß an Geld nennen, das nötig erscheint, um sich viele grundlegende Dinge des Lebens überhaupt leisten zu können. Neben solchen gemeinsamen Grundlagen werden sich aber etliche Unterschiede ergeben. Was ist zum Beispiel mit religiösen und philosophischen Themen? Was ist mit der Frage nach Gott, einem Gott, nach einem übergeordneten Sinn? Selbst wenn wir in einem Land leben und eine gemeinsame Sprache sprechen, werden wir diese Frage schon unterschiedlich beantworten. Kann man dann aber als Gesellschaft sagen, dass man den Glauben zum Leben braucht? Dass er auch etwas ist, von dem wir leben? Ganz egal, welcher Religion man angehört? Wenn ja, von was lebt dann der Atheist in unserer Gesellschaft? Hat er kein Bedürfnis an etwas oder jemand zu glauben? Unweigerlich bleibe ich hier an dem Wort Bedürfnis kleben. Ich habe zu wenig Wissen über die theologischen und philosophischen Erklärungen hinsichtlich der Notwendigkeit eines Glaubens und kann diese Frage deshalb nicht eindeutig beantworten. Daher versuche ich in eine andere Richtung zu denken. Sind es denn vielleicht die verschiedenen Bedürfnisse, von denen wir leben? Sind es die Dinge, auf die sich unsere Bedürfnisse richten? Und wenn ja, trifft dies für uns alle zu?
Mir kommt Abraham H. Maslow, ein amerikanischer Professor für Psychologie, in den Sinn. Er hat in seinem Werk Psychologie des Seins anschaulich dargestellt, wie Menschen ihre Bedürfnisse entwickeln. Er geht dabei von dem Grundgedanken aus, dass die menschliche Bedürfnisbefriedigung ein immer andauernder Prozess ist, da sich nie ein Zustand der vollkommenden Befriedigung einstellt. Er entwickelt in diesem Zusammenhang seine Bedürfnispyramide, die aus fünf Stufen besteht. Nach seiner Theorie werden die Bedürfnisse einer höheren Stufe angestrebt, wenn jene einer niedrigeren erfüllt sind. Ausgehend von Grundbedürfnissen wie Schlaf, Nahrungsaufnahme und Sexualität gibt er den Bedürfnissen eine aufeinander aufbauende Rangordnung. Auf die Grundbedürfnisse der ersten Stufe folgen Sicherheits- und Schutzbedürfnisse (wie materielle Sicherheit, Stabilität, Ordnung, Gesetze, Gesundheit, Risikovor- sorge). Hierauf folgt die Stufe der sozialen Bedürfnisse (Information, Kommunikation, Partnerschaft, Liebe, Freundschaft, Gruppenzugehörigkeit) und darauf die Stufe der Geltungsbedürfnisse (Anerkennung, Macht, Selbstachtung, Selbstbestätigung, Wertschätzung und Respekt durch andere, Prestige, Status, Image). Die letzte Stufe nennt Maslow das Bedürfnis nach Selbsterfüllung, wozu er Individualität, Güte, Gerechtigkeit, Selbstlosigkeit, Selbstfindung und Selbstentfaltung zählt. Später ergänzte Maslow diese Struktur noch um eine Stufe der Transzendenz, wozu auch die Suche nach Gott gehört.
All diese Bedürfnisse werden von ihm als Weg zur allgemeinen Selbstverwirklichung gesehen, unter die sich alle Grundbedürfnisse ordnen lassen. Seiner Ansicht nach muss jeder seiner Eignung folgen und die Eigenschaften, die ihn auszeichnen, weiter ausbauen und verfeinern. Dies erzeugt immer neue Bedürfnisse, die erfüllt werden müssen, um dieser Aufgabe nachzukommen. Maslow sieht diese verschiedenen Bedürfnisse gleichzeitig in einem ständigen Wandel. Sie hängen zum Beispiel ab von der jeweiligen Lebenssituation und dem jeweiligen Lebensalter des Betroffenen. Selbstverwirklichung wird daher auf ganz unterschiedlichen Ebenen ganz individuell praktiziert, auch wenn wir als Teil einer Gesellschaft gemeinsame Ziele und Grundlagen haben. Ist es deswegen so schwierig, die Frage danach zu beantworten, wovon wir leben? Weil sie zu individuell zu beantworten ist?
Einsichten
Ich versuche etwas zu finden, was für möglichst viele von uns gilt. Was noch etwas Grundlegendes ist, das wir alle auf die Frage nennen, wovon wir leben. Mir kommen meine ersten Gedanken in den Sinn. Was ist mit der Arbeit? Neben dem Lohn, mit dem wir unser Leben finanzieren, ist es auch eine Möglichkeit, andere lebenswichtige Dinge zu erlangen. Maslow nennt die Selbstverwirklichung und Bedürfnisse nach Prestige, Macht, Sicherheit und sozialer Anerkennung. Findet eine gesellschaftliche Anerkennung nicht schon allein durch das Innehaben eines Arbeitsplatzes statt? Und sind hohe Arbeitslosenzahlen deshalb auch ein so großes Problem, weil Arbeit über Geld hinaus einfach etwas ist, das wir zum Leben brauchen? Ich muss an meine Eltern denken, die beide berufstätig waren und nun im Ruhestand sind. Sie betonen immer, wie wichtig es ist, dass ich mich ständig für eine gute Arbeitsstelle ins Zeug lege. Nicht nur, weil ich Geld verdienen möchte, sondern weil die Arbeit mich auch erfüllen soll. Aber wovon leben meine Eltern heute, nach ihrer Pensionierung? Natürlich von der Rente und den Ersparnissen, die ihnen ihre Arbeit ermöglicht hat. Aber wovon leben sie nun, außer vom Geld, wenn die Arbeit so wichtig für eine Selbstverwirklichung ist?
Die vielen Berichte und Meldungen über die gegenwärtige Bevölkerungsentwicklung fallen mir ein. Mit längerer Lebenserwartung und demographischem Wandel ändert sich unsere Bevölkerungsstruktur. In ei- nem Artikel, den ich letzte Woche im Internet gelesen habe, sprach ein Soziologe von einer Verschiebung der Lebensphasen. Nahm die Zeit der Erwerbstätigkeit früher einen Großteil der Lebenszeit ein, soll dieser Lebensphase heute eine neue, deutlich verlängerte und eigenständige Nachberufliche Lebensphase gegenüber- stehen. Für sie gilt es, eine neue Aufgabe, einen Sinn, eine Erfüllung zu finden. So wohl auch für meine Eltern, sie haben eine Menge an Ehrenämtern und Enkelkinder-Umsorgungsaufgaben übernommen. So haben beide heute wirklich nicht weniger zu tun als im Beruf. Hier entstehen dann anscheinend unweigerlich neue und andere Bedürfnisse und damit wahrscheinlich auch wieder andere Antworten auf die Frage, wovon wir leben.