Caro steht in einer Menge tanzender Menschen auf einem Open Air - es ist viel los, die Menschen lachen und sind unbekümmert. Caro, die sich selbst als weltoffen und bestimmt nicht als fremdenfeindlich oder verallgemeinernd bezeichnen würde, kommt nicht darum, ein Gefühl der Angst zu empfinden: „Was, wenn genau jetzt jemand in die Menschenmasse mit einer Waffe stürmt?" Sie will die Stimmung nicht dämpfen und behält ihre Gedanken für sich. Sie ärgert sich, dass dieses Angstgefühl überhaupt in ihr aufkommen kann, obwohl sie es ja eigentlich besser weiß - laut dieser Statistik des Spiegels sterben bei uns jedes Jahr mehr Menschen an Fischgräten als an islamistisch motivierten Anschlägen.
Wenn es eine Emotion schafft, die momentane Diskussion zu beherrschen, dann genügt ein Blick in die Tageszeitungen, um zu wissen von welcher die Rede ist: „ein Posten in Zeiten der Angst" bezeichnet der Kurier zum Beispiel den voraussichtlich neuen EU-Kommissar für Sicherheit. Laut einer Umfrage des Blattes Österreich hätten bereits 59% der heimischen Bevölkerung Angst vor einem Terror-Anschlag. 75% der Befragten glaubten hierbei, die Flüchtlingskrise habe diese Gefahr unmittelbar erhöht. Die Verlässlichkeit dieser Quellen sei dahingestellt - das Vorhandensein eines Gefühls der Angst ist jedoch kaum zu leugnen.
Kann man diese Emotionen besser rechtfertigen, wenn man sich den evolutionären Hintergrund unserer Emotionen ansieht? Sind viele von ihnen irrational oder ist Caros Angst berechtigt? Und wie kann die Angst überhaupt entstehen, obwohl man Fakten kennt, welche sie logisch entwaffnen könnten?
Angst als Überlebensstrategie
David Buss schreibt in seinem Buch „Evolutionäre Psychologie", dass die Wurzel unseres Verhaltens in der Natur immer einen Überlebenskampf als Basis hat. Auch Angst sichert auf gewisse Weise unser Überleben. Was vielleicht unlogisch klingen mag, wirkt nach der Erklärung der Anthropologin Katrin Schäfer einleuchtend: „Angst hilft, dass wir uns bei realen Gefahren adäquat verhalten." Angst ist somit zuallererst eine Anpassung, die unsere Vorfahren trafen, um mit einer Reihe von Überlebensproblemen zurechtzukommen. „Die feindlichen Kräfte der Natur", ein Begriff des berühmten Wissenschaftlers Charles Darwin, beinhaltet Faktoren wie Klima, Nahrungsknappheit, Giftstoffe, Parasiten, Raubtiere und eben auch feindliche Artgenossen. Der Umgang mit diesen setzt somit quasi eine Intuition voraus: Angefangen bei der Auswahl dessen, was wir essen können ohne uns zu vergiften, endet die Intuition bei der Frage, wem wir vertrauen können, um weiterhin zu überleben. „Ängste sind Anpassungen, um biologisch sinnvoll zu reagieren", so Schäfer. „Die Angst vor Schlangen ist ein typisches Beispiel: Der Homo sapiens kommt aus Afrika, wo es viele hochgiftige Schlangen gibt. Der Fehler, eine giftige Schlange für harmlos zu halten, war früher fatal. Eine ungiftige für giftig zu halten hingegen war mit sehr wenigen Kosten verbunden und am Ende die bessere Wahl." Diejenigen Vorfahren, welche die zweite Entscheidung vorgezogen haben, konnten sich evolutionär durchsetzen und wurden zu unseren Ahnen.
Es bleibt jedoch die Frage, ob diese Anpassungen heute auch noch einen Vorteil verschaffen. Katrin Schäfer spricht bei diesem Thema von einem Fehlschluss, den wir oft ziehen: „Wir gehen immer davon aus, dass unsere Präferenzen und unsere Abneigungen aus der Evolution zu erklären sind. Als ‚gut' oder 'schlecht' bezeichnen wir deshalb Sachen, um sie zu rechtfertigen. Eigentlich ist es aber genau das Gegenteil: Dass zum Beispiel Zucker süß für uns schmeckt, ist eine Anpassung an damalige Lebensumstände." Dadurch, dass zuckerhaltige Nahrung für uns gut schmeckte, konnten wir kalorienreiche Nahrung auswählen und unter Umständen länger überleben. Heute machen uns diese Vorlieben jedoch zu schaffen und führt wie in diesem Beispiel oftmals zu Fettleibigkeit.
Auch Fremdenfeindlichkeit könnte somit als ein solches „evolutionäres Erbe" gesehen werden, welches uns hilft, Gefahren aus dem Weg zu gehen und somit länger zu überleben. Angst bereitet beispielsweise auch unsere Muskulatur vor, um sich zu verteidigen oder zu fliehen. Aber hilft sie uns auch in modernen Zeiten, reaktionsfähiger zu sein und angemessener zu reagieren? Während damals eine anfängliche Skepsis eher von Vorteil war, scheint sie heute auf den ersten Blick eher „irrational" und in Situationen wie beim Schreiben einer Prüfung, vor dem Sprung mit dem Fallschirm oder bei einem Spaziergang im Dunkeln von Vorteil zu sein.
Emotions-Cocktail
Der emotionale Prozess der Angst ist leichter verständlich, wenn man
Emotionen an sich versteht. Sie sind immer eine Antwort auf eine
Situation – positiv oder negativ. Laut Bernard Wallner laufen diese
Prozesse grundsätzlich strukturiert in unserem Neokortex ab.
Dieser ist Teil der Großhirnrinde, der äußersten Schicht des Gehirns
und ein wichtiges Zentrum emotionaler, geistiger Aktivität. Dabei
spielen zwei Hormone eine wichtige Rolle. Eines davon ist Dopamin,
welches nicht nur Angst, sondern auch Empathie auslösen könne: „Es gibt
verschiedene Rezeptoren auf dieses Molekül, welches uns in bestimmten
Situation immer eine entsprechende Antwort gibt – eine positive, wenn
man Empathie empfindet, aber in einem anderen Fall auch Angstgefühle.“
Der Hypothalamus, ein Teil des Zwischenhirns, ist für die Steuerung des zweiten Schlüsselhormons beim Empfinden von Angst zuständig: Cortisol. „Im Hypothalamus finden sich viele Knoten, die auf angstvermittelnde Situationen ansprechen und Hormone ausschütten, die über mehrere Wege bis in die Nebennierenrinde gelangen“, so Wallner. In den Nieren werde dann das Hormon Cortisol ausgeschüttet und dadurch werden wiederum negative Reaktionen im Gehirn ausgelöst – die klassische Stressreaktion. Dauert diese länger an, wird immer mehr Cortisol produziert. Dieses verwendet schlussendlich Ressourcen unserer Muskel- und Fettzellen und erzeugt damit Energie, die zu einer altbekannten Reaktion führen: Fight-or-flight – Kämpfen oder Fliehen. Kritisch wird es, wenn die Stressreaktion noch länger andauert: Wenn der Körper beginnt seine eigenen Ressourcen aufzubrauchen, könne das zu schweren physiologischen Fehlmechanismen führen. „Dadurch wird die eigene Existenz erst recht wieder bedroht, wodurch der Stresspegel steigt und Menschen nervös oder ängstlich werden können.“ Es entsteht ein Teufelskreis der Angst-Produktion, wie der Verhaltenspsychologe erklärt: „Kommt dann jemand von außen, der undurchschaubar ist und über den man im Vorfeld schon negative Sachen gehört hat, verstärkt das erst recht den emotionalen Ablauf.“
Die Evolution der FremdenfeindlichkeitZurück zu den evolutionären Erklärungen von Emotionen, wird das Anpassungsproblem bei einer Angst vor Fremden darin gesehen, dass eine Verletzung durch fremde Menschen, insbesondere Männer, bestehen könnte. Das taucht in der Kindheitsentwicklung bereits bei Säuglingen im Alter von sechs Monaten auf: Bei den ersten Entfernungsversuchen der eigenen Mutter zeigen sie Vermeidungsstrategien gegenüber fremden Männern, da diese auch historisch gesehen gefährlicher waren.
Eine Angst vor Fremden per se, seien es Flüchtlinge oder Migranten, kann aber laut Katrin Schäfer keine Anpassung sein: „Wir waren ja die längste Zeit unserer Geschichte selbst auf Wanderschaft.“ Eine Erklärung könnte eine Hypothese aus der Psychologie liefern: Die sogenannte „adaptive Konservatismus-Hypothese“ nennt die Tendenz, Sachen zu verallgemeinern als eine der typischen Charakteristika von Angststörungen. Bei dieser krankhaften Form von Angst wird die Emotion gegenüber einer größeren Bandbreite an Sachen empfunden, als tatsächlich eine Gefahr darstellen. Auch dies kann wieder auf den evolutionären „Energie-Sparmodus“ zurückgeführt werden: Der Preis etwas Gefährliches als ungefährlich einzustufen bleibt höher als die gegenteilige Variante. So kann auch die Verallgemeinerung erklärt werden.
Futter für die Medien
Wie nun umgehen mit einer Angst vor Fremden, die in Angesicht unserer
langen, evolutionären Vorgeschichte, real und mit Fakten unterstützt
ist? Zusammenfassend könnte die Fremdenangst heute als Angst vor einer
Bedrohung des Status quo gesehen werden, wie auch Katrin Schäfer
zustimmt: „Diese Ängste können sehr leicht für politische Zwecke
missbraucht werden.“ Es scheint logisch, dass das Thema die alltägliche
Debatte anheizt und füttert. Das liege einerseits an der falschen,
nämlich zu emotionalen Aufbereitung durch die Medien, als auch an einer
generell falschen Herangehensweise an das Thema, so Bernard Wallner:
„Wenn ich mir die besondere heutige Zeit ansehe wird es für mich immer
klarer, dass die Politik nicht verstanden hat, um was es im Grunde geht.
Niemand wählt die biologische Herangehensweise und versucht überhaupt
zu verstehen, wieso beispielsweise junge Männer so agieren, wie sie
agieren.“ Es sei hierfür wichtig, auch die kulturellen und
sozialanthropologischen Hintergründe der jeweiligen Gesellschaft zu
betrachten. „Ein Beispiel: Ein großer Teil der Menschen lebte und lebt
polygyn (ein Mann hat mehrere Frauen, Anm.) – zum Beispiel in
Afghanistan“. Dies seien stammesgeschichtliche Informationen, die zu
einer wissenschaftlichen Schlussfolgerung und schlussendlich auch zum
leichteren Verständnis der aktuellen Situation führen. „Wenn es jetzt in
meinem Land plötzlich nicht mehr genügend Ressourcen gibt, weil alles
kaputt ist, ich als Mann also nicht mehr genug habe, um meine Frauen zu
versorgen, oder überhaupt welche zu finden, dann ist es nur logisch,
dass ich das Land verlassen muss.“ Ein Fall, der wiederum einen
biologischen Hintergrund hat, obwohl er oft religiös verankert wird.
„Unbekannte Reaktionen verunsichern uns, Menschen die wir nicht
verstehen, lösen Angst in uns aus – das ist nur logisch“.
Angst zu empfinden scheint somit aus hormoneller und evolutionärer Perspektive ein leicht erklärbarer Prozess und eine biologische Anpassung zu sein. Sich Vorwürfe zu machen, wie Caro, führt immerhin zu einer reflektierten Behandlung des Themas – steuern kann sie ihre Gefühle deswegen aber nicht.
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