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"Solo Sunny": Sie könnte auch eine von uns sein

Ihren Namen kannte ich nicht, aber ihr Gesicht. Die großen Augen, die vollen Lippen. Ja, vor allem ihren Mund. Als mein Vater in der vergangenen Woche in den Familienchat schrieb, "Frau Krößner, Solo Sunny" sei gestorben, antwortete meine Mutter: "Wie denn das so plötzlich?" Ich wusste nicht, wen sie meinten. Dann googelte ich ihren Namen. Und erkannte sie und ihren tollen Mund sofort. Ich sah die Liste ihrer Filme und wusste: Sie war mir schon oft, unbekannterweise, auf dem Bildschirm begegnet. Vielleicht in dem Tatort mit Götz George? Oder in Küss mich Genosse, den ich mir als Jugendliche angeschaut habe? Ich weiß nicht mehr, wo ich sie zuerst gesehen habe. Ich weiß nur, ich sah sie gern.

Ich bin zweieinhalb Jahre nach dem Fall der Mauer geboren, den meine Eltern in Ost-Berlin verschlafen haben. Ich bin dankbar für all die Freiheiten, die meine Eltern nicht hatten, aber ich habe mich immer für ihr Leben in der DDR interessiert. Ich kenne Die Legende von Paul und Paula, weil das der Defa-Film ist, von dem meine Mutter am meisten erzählte. Sie hat ihn für 1,65 Mark in einem kleinen Kino geschaut, in dem Essen verboten war. Die Kinoaufsicht, Frau Penger, ermahnte jeden, der zu oft aufs Klo ging. Ich weiß, dass meine Eltern um den DDR-Aufklärungsfilm Sieben Sommersprossen immer ein großes Geheimnis machten. Berlin - Ecke Schönhauser habe ich mir mit Anfang 20 einmal angeschaut, als ich nach Prenzlauer Berg zog. Aber Solo Sunny kannte ich nicht, ich hatte, so glaube ich, noch nicht mal davon gehört. Warum eigentlich?

Ich rufe meine Eltern an. Wann habt ihr Solo Sunny das erste Mal gesehen und wo? "Im Kino? Ich glaube nicht. Papa weiß es auch nicht mehr", sagt meine Mutter. Vor kurzem lief Solo Sunny noch mal im rbb. Meine Mutter schaltete ein und verschlief doch die Hälfte. Sie kannte ihn ja schon, es war spät. "Was magst du denn an dem Film?", frage ich. "Dieses Lied geht sofort in den Kopf. Das ist ganz prägend." - "Und was noch?" - "Dafür müsste ich den Film noch mal sehen. So richtig weiß ich nicht mehr, was da passiert." Sie reicht den Hörer weiter, mein Vater ist dran. "Ich erinnere mich an das Bild, wie sie da mit der weißen Haube steht und singt", sagt er. "Das ist ein Netz!", ruft meine Mutter aus dem Hintergrund. Wir legen auf, ich bin ein bisschen enttäuscht. Mehr ist von Solo Sunny nicht geblieben? Ich male mir aus, dass das Lied der Höhepunkt des Filmes sein muss.

Ich sitze auf meinem Bett, den Kopf an die Wand gelehnt, und finde Solo Sunny sofort bei einem der großen Streamingdienste. Nach den ersten Minuten merke ich: Ich sitze wie sie in einem Hinterhaus in Prenzlauer Berg, ich wohne nur ein paar Hundert Meter von Sunnys Filmwohnung entfernt. Nur blättert vor meinem Fenster keine Farbe mehr von den brauen Fassaden.

Im Film steht Sunny mit einem pinken Handtuch um den Körper am Fenster und isst einen Apfel. Tauben sitzen auf den Fensterbrettern und fliegen laut flügelschlagend durch den Hinterhof. "In ihrer Wohnung nisten Tauben", ruft eine Nachbarin Sunny zu. Die lacht. Tauben gibt es hier in den Hinterhöfen noch heute.

In Sunnys Wohnung herrscht etwas Chaos. Die Einrichtung ist zusammengewürfelt, so war das wohl, die Dusche in der Küche, das Klo eine halbe Treppe tiefer. Es sieht nach Leben aus, das mag ich. In vielen deutschen Filmen heute sind Wohnungen eingerichtet wie im Möbelkatalog, mit Glasfront und einer schwarzen, nie genutzten Küche. Sunny, eigentlich Ingrid, hat ihre Arbeit aufgegeben, sich Notenlesen und Singen beigebracht. Mit anderen Künstlern und Artisten tourt sie jedes Wochenende durch die Republik und singt. Im Publikum sitzen Männer mit ungepflegten Bärten, buschigen Kotletten oder einem zu dicken Schnauzbart. Das alles spielt in einer DDR ohne Politik, in der sich Nachbarn über Sunny beschweren, aber Sunnys Lebensstil keine Folgen für ihre Freiheiten hat. Mit Butterstullen am offenen Fenster und Kachelofen im Wohnzimmer ist die DDR kein Schauplatz, sondern nur Kulisse.

Großartig ist die Szene, in der Sunny vorgibt, ihren Schlüssel vergessen zu haben, um beim Saxofonisten Ralph übernachten zu können. Die beiden müssen sich sein schmales Bett teilen, Ralph quetscht sich neben Sunny und fragt: "Oder wollense zur Wand?" - "Nee, nee. Irgendwie komisch, dass wir hier so liegen und Sie sagen", sagt Sunny. "Okay, ich bin Ralph, wie de weißt." Wolfgang Kohlhaase hat das Drehbuch geschrieben. Seine Dialoge mochte ich schon bei Berlin - Ecke Schönhauser und Sommer vorm Balkon.

Wo gibt es das heute noch, Szenen und Dialoge, die einfach so passieren? Ohne dass man bei jedem Satz ahnt, dass der noch wichtig für später sein wird, dass jede Szene nur eine Steigerung der vorhergehenden ist?

Der Film plätschert vor sich hin. Ich kann es meiner Mutter wohl doch nicht verdenken, dass sie dabei eingeschlafen ist. Aber es ist erfrischend, dass ich nicht weiß, wohin dieser Film will. Dass ich Sunny auf ihrer Reise einfach so begleiten kann. Und dann, mitten im Film, steht Sunny auf der Bühne, das Netz über den Haaren und singt "Solo Sunny":

Blue - the dawn is growing blue / A dream is coming true ...

Die Melodie gefällt mir, aber ich schmunzle über die schlechte Synchronisierung von Krößners Lippen zu dem Gesang der Jazzsängerin Regine Dobberschütz. Immer leicht zu spät und versetzt bewegt sie den Mund bei jeder Silbe viel zu groß. Die Zunge holt zu viel Schwung, wenn sie gegen die Schneidezähne presst, um ein "th" zu imitieren. Und dann ist die Szene, an die sich alle erinnern, schon vorbei.

Sunny hält sich nicht an alle Regeln, sie wehrt sich, wenn auch manchmal mit Füßen (oder ihren Pfennigabsätzen), sie tritt ein für das, was sie will - auch wenn sie nicht immer gleich weiß, was das ist. "Ich beleidige Leute auch gezielt", sagt sie, oder: "Ja, meinen größten Erfolg habe ich immer dann, wenn ich jemandem die Meinung sage." Diese Sätze finde ich toll.

Ich schaue ihr beim Scheitern zu, beim Trinken und Rauchen, beim Aufstehen und Weitermachen. "Worüber weinst'n du?", fragt ihre Freundin. Und Sunny sagt nur: "Über alles." Sunny könnte auch heute eine von uns sein, an der das Leben zu schnell vorbeirauscht. Und gibt es ein Happy End? So richtig weiß ich es am Ende nicht. Aber ich sehe, dass man immer wieder aufstehen und neu anfangen kann.

Auch wenn ich mich erwische, wie ich das Lied von Solo Sunny leise vor mich hin summe. Schade, dass bei vielen nur diese Szene und Melodie hängengeblieben sind, und nicht das Bild dieser starken Frau, die Renate Krößner da spielt. Ihren Namen werde ich nicht mehr vergessen.

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