Mit der Hit-Single „Boys & Girls" gelang es Blur, aus billigen Einzelelementen ein kluges Songjuwel über die Vertauschbarkeit der Geschlechter im enthemmten Sommerurlaub zu machen. Und alle sangen mit.
Müsste nur ein einziger Song auserkoren werden, der erklärt, warum die 1990er Jahre das anhaltende Sehnsuchtsjahrzehnt selbst jüngerer Generationen bleiben, dann sollte es „Girls & Boys" von Blur sein. Ein billiger, schöner Disco-Beat, der Indierockfreunde und Clubgänger gleichermaßen abholt, trifft auf eine grundironische Haltung und einen eingängigen Text über Promiskuität und Sommerurlaub, welcher der mitgrölenden Meute dabei noch einige spezifische Frechheiten unterschiebt, die zu allem Überfluss auch noch mitzusingen waren.
Zuerst hört man da ein paar Keyboard-Noten, dann folgen ein Beat aus der Drummachine sowie eine ausgesprochen funky-hypnotische Basslinie, bevor Damon Albarns Gesang einsetzt. Er erzählt von simplen, nicht jugendfreien Sommerfreuden im Ferienresort und Ausnahmezuständen, die trotz Polizei und Massenaufläufen eher aufregend als bedrohlich anmuten (wir befinden uns immerhin in den neunziger Jahren, das Ende der Geschichte ist in greifbarer Nähe): „Street's like a jungle / so call the police / following the herd down to greec e", besingt Bandleader Damon Albarn den sorglosen, weil - so soll sich noch herausstellen - konsequent unverkopften Sommerurlaub. Im zugehörigen Video steht die Band vor einem Bluescreen, über den junge Menschen Wasserrutschen entlang gleiten. Die sogenannte Fun-Gesellschaft, wie es seinerzeit kritisch von Lehrern und Eltern zu hören war, befindet sich auf ihrem Höhepunkt, sie macht auch nicht vor privaten Beziehungen Halt: „Love in the 90's is paranoid / On sunny beaches / Take your chances / Looking for..."
Um welches Gender geht es gerade?„Girls & Boys" war die erste ausgekoppelte Single auf „Parklife", dem dritten Album der Band, das 1994 veröffentlicht wurde. Die Idee zu dem Song kam Damon Albarn während eines Sommerurlaubs mit seiner damaligen Freundin, „Elastica"-Sängerin Justine Frischmann. Der gewählte Ort war das spanische Magaluf, ein insbesondere bei jungen Briten beliebtes Ferienziel, bekannt für sein „lebhaftes und eher derbes Nachtleben", wie die Seite Mallorca-ABC vornehm formuliert. Damon Albarn drückte es seinerzeit weniger vornehm aus: „All diese Typen und all diese Mädels treffen sich in der Kneipe, es wird einfach kopuliert." Albarn betonte, dass seine Perspektive in dem Lied die eines Beobachters sei; eine moralische Bewertung sei dabei nicht im Spiel. Klar, man kann den feinen Spott hören, aber eben auch die Faszination, die von einer so wild feiernden, höchst paarungswilligen Menge ausgeht.
Der Refrain schließlich besingt eine Szenerie, in der die titelgebenden Geschlechter eher vage Skizzen darstellen für allerlei mögliche Fremd- und Selbstinterpretationen von Identität: „Girls who are boys / Who like boys to be girls / Who do boys like they're girls/ Who do girls like they're boys". Bemerkenswert spielfreudig ist die englische Sprache, in der aus den Jungen, die Mädchen mögen, flugs solche werden, die Mädchen gern wie Jungs hätten, die mit Jungs Sex hätten, als seien sie Mädchen, und so fort. Ob nun tatsächlich die Durchschnittspartymeute in Magaluf, am Ballermann oder anderswo ähnlich tolerant mit den hier proklamierten Vexierbildern von Geschlechtlichkeit umging, sei dahingestellt, aber so viel ist klar: Wer zu diesem Song feiern will, der muss ihn mitsingen. Und unvergleichlich catchy sind diese Zeilen mit ihrer plumpen Betonung auf girls und boys sowie vice versa allemal. Das Ping-Pong gipfelt in einem konsequent mehrdeutigen „Always should be someone you really love", wobei in dem „loooooove" für einen langgezogenen Augenblick je nach Lesart verschiedene Teilmengen von Unsinn und Dada, süffisantem Cool und vielleicht gar auch ein wenig Melancholie kulminieren.
Der Musikkritiker Stephen Thomas Erlewine wollte in „Girls & Boys" eine absolute Abrechnung mit dem neunziger-Jahre-typischen Gender-Bending, dem radikalen Ausdehnen der Geschlechter-Grenzen und -Definitionen sehen, „wo selbst Ambisexuelle nicht mehr wussten, wessen Fantasie sie eigentlich gerade erfüllten." In Fan-Foren hingegen wird der Refrain geradezu als Mutmachlied und Statement für die Auflösung starrer Konventionen gelesen. Hier berichten junge Menschen, wie der Song sie ihrerzeit gerettet habe, ermutigt, beispielsweise die eigene Homosexualität zu formulieren. Das Lied selbst lässt derweil völlig offen, ob es die besungene Szenerie eher für das Ultimum sexueller Befreiung, für blanke Austauschbarkeit des Einzelnen oder schlicht für ein gutes Songthema hält. Einiges spricht dabei für die folgende Lesart: Egal, um welches Gender es geht, alle sind in diesem Fall gleich gut oder schlimm. Bemerkenswert ist hier wohl vor allem das„Egal". Die Form folgt dem Inhalt, oder vielmehr kreiert sie ihn erst. Als „hirnbetäubend" beschrieb „Billboard"-Musikkritiker Larry Flick den Abzählreim-Charme des Refrains, der es nach mehrmaligem Durchsingen tatsächlich unmöglich macht, zu definieren, ob man nun gerade Junge oder Mädchen, Mann oder Frau besingt.
Zwei knappe Strophen folgen, in denen es um die Vermeidung von Arbeit geht, wo ohnehin keine vorhanden ist, um den fließenden Übergang zwischen Verschwendung und Recycling („Nothing is wasted / Only reproduced / You get nasty blisters"), und schließlich ums Aufreißen, zu dem kurioserweise die deutsche Formulierung „Du bist sehr schön" herangezogen wird, die bei Albarn allerdings wie „Du-bi-sä-scheenn" klingt, also exakt so, wie man sich das bei einem angeschickerten Briten in der Clubmed-Disco vorstellen würde.
„Girls & Boys" war die bis dato erfolgreichste Single-Auskopplung von Blur und die erste Plazierung in den britischen Top 5-Charts. Für die Band war der musikalisch eher untypische Song noch auf andere Weise ein Gewinn, konnte sie sich damit doch endlich ein wenig vom Artschool-Image befreien, das Blur seinerzeit vorauseilte (es ist ja ohnehin ein grundlegendes Missverständnis, dass die Label-Erfindung „Britpop" in ihrem Ursprungsland eine besonders feingeistige Angelegenheit für Kunststudierende und Gymnasiasten gewesen wäre, auch wenn das hierzulande so ankam, aber das ist eine andere Geschichte).
Aus billigen Einzelelementen gelang es Blur, ein kluges Songjuwel zu schaffen, das den Zahn der Zeit im Gegensatz zum hier lose zitierten Eurodance gut überstanden hat. „Girls & Boys" ist so magisch anziehend wie das Urlaubssouvenir aus buntem Plastik, wie Fakegold-Tand geblieben - ein Erfolgsrezept, das der Blur-Bassist Alex James folgendermaßen auf den Punkt brachte: „Disco-Drums, fiese Gitarren und ein Duran Duran-Bass". Das gefiel auch anderen: Wenn es ein Lied gäbe, das er selbst gern geschrieben hätte, dann wäre es „Girls & Boys", erklärte Thom Yorke, Sänger und Songschreiber von „Radiohead" einmal.
Gibt es ein anderes Lied der jüngeren Musikgeschichte, das süffisant das Animalische im Menschen besingt und dabei musikalisch, inhaltlich und sogar in der textuellen Architektur seinerseits so konsequent ans Limbische System appelliert? Gleich, wie groß die ironische Distanz sein mag, die Albarn für seinen Beobachterposten deklariert hat, für die gut viereinhalbminütige Dauer weckt „Girls & Boys" unweigerliche Sehnsucht, selbst Teil einer Herde zu werden.
Street's like a jungle So call the police Following the herd Down to Greece On holiday Love in the nineties Is paranoid On sunny beaches Take your chances Looking for
Avoiding all work 'Cause there's none available Like battery thinkers Count your thoughts On one-two-three-four-five fingers Nothing is wasted Only reproduced You get nasty blisters Du bist sehr schön But we haven't been introduced
Oh, oh, oh, oh oh, oh Oh, oh, oh, oh oh
Oh, oh, oh, oh oh, oh Oh, oh, oh, oh oh