Lange war Hongkongern klar: Wer straffällig wird oder auch nur verdächtigt, kann nicht nach China ausgeliefert werden. Seit die einstige britische Kolonie 1997 an China zurückgegeben wurde, hat mit einer Reihe von Staaten, auch Deutschland, Auslieferungsabkommen. Nur eben mit China nicht. Dessen Justiz gilt nicht als unabhängig. Als Hongkongs Stadtverwaltung Anfang Juni ankündigte, das ändern zu wollen, begannen die Proteste, die bis heute andauern. Hunderttausende demonstrieren seit Wochen in Hongkong. Und längst geht es um mehr als um das Auslieferungsgesetz. Das hat die Stadtverwaltung derzeit auf Eis gelegt.
Mittlerweile gibt es fünf Kernforderungen der Protestbewegung, darunter die komplette Rücknahme des Gesetzes, eine unabhängige Untersuchung zur Polizeigewalt der letzten Monate und allgemeines Wahlrecht. Lange hatte die Hongkonger Polizei den Demonstierenden nur Gewalt entgegenzusetzen: Immer wieder versuchte sie, mit Tränengas, Pfefferspray, gewalttätigen Festnahmen und zuletzt einem Wasserwerfer, sie zum Aufgeben zu bewegen. Nach fast drei Monaten ohne Erfolg möchte die Hongkonger Regierung den Protesten nun anderweitig die Luft abdrehen und die Demonstrierenden einschüchtern.
Katharin Tai
Die freie Autorin für ZEIT ONLINE hat zuletzt in Taipeh gelebt und promoviert derzeit am Massachusetts Institute of Technology (MIT) im amerikanischen Cambridge.
Chancen auf eine politische Lösung gibt es kaum, da die Hongkonger Regierung letztlich der Zentralregierung in untersteht. Die hatte ihr aktuellen Berichten zufolge untersagt, den Forderungen in irgendeiner Weise entgegenzukommen. So kann die Hongkonger Regierung nur versuchen, die Proteste einzudämmen. Am 18. August wollte sie Massenproteste verhindern, indem sie die Genehmigung für einen Protestmarsch gegen Polizeigewalt der Gruppe Civil Human Rights Front (CHRF) verweigerte. Stattdessen erlaubte sie nur eine Kundgebung im Victoria Park. Doch die Strategie ging nach hinten los: Im strömenden Regen kamen laut Zahlen der Organisatoren 1,7 Millionen Menschen zur Kundgebung, füllten den gesamten Park und liefen in einem inoffiziellen Protestmarsch durch die Straßen um den überfüllten Park herum.
Gleichzeitig versucht die Hongkonger Regierung, die Proteste logistisch zu erschweren. "Seid Wasser!" - mit dieser Strategie, als Menschenmasse im Konfliktfall einfach wie eine Flüssigkeit auseinanderzufließen, hatten die Demonstrierenden zuletzt versucht, Auseinandersetzungen mit der Polizei zu entgehen. Und sie hatten sich darauf verlassen, in so einem Fall schnell mit der MTR, der Hongkonger U-Bahn, entkommen zu können. Zuletzt verhinderten die MTR-Betreiber am 21. August eine Eskalation, als sie Sonderzüge in eine von Demonstrierenden besetzte Haltestelle schickten, aus der es keinen anderen Ausweg mehr gab. Statt sich mit der anrückenden Polizei anzulegen, fuhren alle Besetzerinnen und Besetzer mit den Sonderzügen in andere Teile der Stadt.
U-Bahn fährt Orte mit Demos nicht mehr anIn den folgenden Tagen sah sich die MTR starker Kritik von chinesischen Zeitungen ausgesetzt, für ihre "Unterstützung von Randalierern". Kurz darauf kündigte die Firma an, keine Sonderzüge mehr zu Stationen zu fahren, in denen Proteste stattfinden. Am Wochenende sagte sie auch den regulären Service an Haltestellen ab, in deren Nähe die Regierung Proteste genehmigt hatte. Die Demonstrierenden müssen seitdem auf andere Transportmittel für ihren Rückzug zurückgreifen. Oder einfach zu Fuß gehen. So sind sie langsamer und laufen eher Gefahr, festgenommen zu werden. Trotzdem gab es in der vergangenen Woche immer wieder kleine Proteste, auch direkt an Polizeistationen.
Am Samstag werden erneut große Menschenmengen erwartet: Vor genau fünf Jahren hatte die chinesische Regierung bekannt gegeben, dass Hongkong zwar ein allgemeines Wahlrecht bekommen könnte, die Kandidatinnen und Kandidaten allerdings vorher in Peking ausgewählt würden - also bei Weitem nicht die demokratischen Wahlen, die prodemokratische Gruppen seit Jahren fordern. 2014 führte diese Ankündigung zu Massenprotesten und einer 79-tägigen Besetzung von Teilen der Innenstadt, die als Regenschirmbewegung bekannt geworden ist. Anlässlich des Jahrestages hatte CHRF erneut einen Protestmarsch angemeldet, dem die Regierung jedoch eine Genehmigung verweigerte. Nicht einmal eine Kundgebung wurde erlaubt, woraufhin die Organisation das Event offiziell absagte. Wer protestieren gehe, würde an einer illegalen Versammlung teilnehmen, hieß es.