Schon vor dem russischen Angriff auf die Ukraine haben Politiker gefordert, die europäische Raumfahrt neu zu denken: Europa brauche bessere Trägerraketen. Auch eine eigene Megakonstellation aus hunderten Satelliten für sicheres Internet gilt vielen als Gebot. Aber wie ausgereift sind diese Pläne?
Von Karl Urban | 07.08.2022
Keine Starts mehr mit russischen Raketen - und nun? Hoffnungsträger Ariane 6 lässt auf sich warten
Die Tage des bisherigen Arbeitspferds Ariane 5 sind gezählt: die letzten zehn Starts bis 2023 sind voll ausgebucht, neue Raketen dieses Typs werden nicht gebaut. Die zweite europäische Rakete Vega C wiederum hat ein anderes Problem. Maßgeblich vom Raumfahrtkonzern Avio in Italien entwickelt, wird das Triebwerk ihrer Oberstufe in der Ukraine gefertigt, das wegen des Kriegs ausfällt. Avio teilte zwar mit, mittelfristig genügend Triebwerke in den eigenen Lagern zu haben. Doch die Vega C bringt ohnehin nur Nutzlasten bis 3,3 Tonnen in einen niedrigen Erdorbit. Die Hoffnung für schwerere Satelliten und Raumsonden aus Europa lastet voll auf der Ariane 6. „Die Ariane 6? Wir sind gerade dabei, den sogenannten ‚Hot Firing Test' in Lampoldshausen durchzuführen und dann können wir wirklich abhängig von den Ergebnissen dieses ‚Hot Firing Tests' und der sogenannten ‚Combined Tests' in Kourou das Datum für den Jungfernflug festlegen. Das heißt, heute können wir das noch nicht."
Was nach emsigen Aktivitäten klingt, ist tatsächlich ein Stillstand. Der Hoffnungsträger der ESA hinkt im Zeitplan drei Jahre hinterher. Der Jungfernflug soll nun möglicherweise im April 2023 stattfinden. Um die eigenen Satelliten zu starten, ist Europa bis auf weiteres von anderen abhängig. Und wenn diese Drittstaaten ausfallen, wird es eng. Die europäische Unabhängigkeit im All hat plötzlich eine ganz andere Dringlichkeit.
Da die Entwicklung der Ariane 6 zu weit fortgeschritten ist, um das Konzept zu verändern, wird eine andere Lösung angedacht. Sie setzt nicht beim Raketenhersteller an, sondern auf der anderen Seite, beim Kunden. Wenn die Ariane zu selten nachgefragt wird, um rentabel zu sein, muss sie eben häufiger starten.
Am 25. Januar 2022 tritt Thierry Breton auf das Podium der Europäischen Weltraumkonferenz in Brüssel. Als EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen ist er auch für die Raumfahrt zuständig. Und er hat einen Plan: "Ich weiß, es ist ambitioniert. Aber ich weiß, es ist auch machbar."
Breton möchte den Wettbewerbsnachteil gegenüber den USA ausgleichen, und zwar mit staatlichen Großaufträgen aus Europa. Dafür verfolgt er ein neues europäisches Großprojekt im All: Eine Megakonstellation aus hunderten, vielleicht auch tausenden Satelliten. Nach dem Vorbild von SpaceX und seinem privaten Satellitennetzwerk Starlink, soll Europa ein staatliches Satellitennetzwerk für schnelle Internetverbindungen aufbauen. Das würde den strategischen Zugang Europas zum All mit einer gut ausgelasteten Ariane 6 sicherstellen und darüber hinaus deren Kosten pro Start durch hohe Stückzahlen drücken.
„Der Weltraum ist ein strategischer Raum, in dem Großmächte jetzt miteinander wetteifern. Wir dürfen nicht länger naiv sein. Europa muss seine Interessen verteidigen und seine Freiheit, im All zu operieren."
Jede Verbindung zu einem der Satelliten kann den Plänen zufolge mit einem Quantenschlüssel gesichert werden. Internetverbindungen wären dann sogar durch leistungsstarke Quantencomputer nicht abzuhören. Es wäre ein europäisches Alleinstellungsmerkmal.
"Und wir werden dafür sorgen, dass diese Initiative von einem neuen Weltraum-Enthusiamus getragen wird."
Das Navigationssystem Galileo arbeitet mittlerweile genauer als das amerikanische GPS. Copernicus-Satelliten ermitteln Daten über Pflanzenwachstum, Eisschwund und Naturkatastrophen. Bei Waldbränden werden damit die Löscharbeiten geplant und koordiniert, zuletzt zum Beispiel in Brandenburg. Und die Megakonstellation „Secure Connectivity" von Thierry Breton? Ist auch sie für das tägliche Leben der Europäerinnen und Europäer nützlich?
Immerhin sind weltweit ähnliche Konstellationen in Arbeit. SpaceX hat für sein eigenes Netzwerk Starlink schon über 2.600 Satelliten in den Orbit befördert - und das System bereits für weite Teile Europas freigeschaltet. Die Konstellationen OneWeb sowie Kuiper vom Amazon-Konzern sind weit gediehen. Auch diese Unternehmen wollen viele hundert Satelliten starten und schnelle Internetverbindungen anbieten. Die Idee des Kommissars dagegen wird wohl frühestens in einigen Jahren realisiert. Wird sie dann überhaupt noch gebraucht?
Diese Frage stellt auch der Moderator auf der europäischen Weltraumkonferenz im Januar 2022. Weil Thierry Breton die Konferenz verlassen hat, sitzt jetzt Ekaterini Kavvada auf dem Podium, in der EU-Kommission Direktorin für Innovation und Öffentlichkeitsarbeit.
„Das ist etwas, was wir nicht haben und definitiv brauchen." „Wenn Sie den Vorschlag einem skeptischen Minister unterbreiten, aus einem EU-Land, das nicht viel Geld hat. Und Sie sagen, die Kommission braucht ein paar Millionen von Ihnen, um die zwei Milliarden zusammenzubekommen und am Ende die sechs Milliarden. Wie wollen Sie die überzeugen?"
Schon heute liegt ein erhebliches Risiko im Betrieb von Megakonstellationen. Ein Zusammenstoß mit Weltraumschrott oder gar von zwei aktiven Satelliten wird mit jedem Jahr wahrscheinlicher. Trotzdem sollte Europa selbstbewusst seinen Platz im Orbit erstreiten, fordert Nienaß. Der Abgeordnete war zuletzt in den USA unterwegs, bei Behörden und Unternehmen, um dort für verbindliche Regeln für den Betrieb von Satellitennetzwerken zu werben. Es gehe darum, festzulegen, wie die vielen neuen Satelliten bei einer drohenden Kollision sicher ausweichen oder wie sie am Lebensende entsorgt werden.
„Das ist das große Problem, was ich sehe, dass wir Wildwestbedingungen bekommen. Dann werden wir am Ende keinen Weltraum haben, an dem jeder teilhaben kann, sondern vor allen Dingen die zwei bis drei großen Firmen, die man jetzt am meisten kennt. Das sind vor allen Dingen SpaceX und Blue Origin. Es sind die Milliardäre, die da ein Wettrennen machen. Am Ende besteht die Gefahr, dass die beiden sich den gesamten Weltraum untereinander aufteilen."
Im Europäischen Parlament hat die Debatte um die Megakonstellation „Secure Connectivity" und eine bessere Regulierung der Raumfahrt gerade erst begonnen. Eine ganz neue und preisgünstige Generation von Trägerraketen made in Europe nimmt indes schon Formen an. Es geht dabei nicht um Ariane und Vega, sondern um Kleinraketen, die speziell für den Unterhalt einer Megakonstellation immer wichtiger werden dürften.