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Feature

Da geht er

Erich Priebke war an der Ermordung von 335 Menschen beteiligt. Aber wenn man in Rom im Supermarkt steht, kann es passieren, dass eben dieser Kriegsverbrecher ein paar Meter weiter Prosecco einkauft. Eine verstörende Begegnung. Wir sitzen im Auto und denken über Pancakes nach, Pancakes mit Ahornsirup. Auf der engen Straße vor dem Supermarkt kommt uns ein Paar entgegen. Zwei Senioren, beide in Grau und Khaki gekleidet, er trägt eine Schildmütze auf dem Kopf, unter der ein paar weiße Haarbüschel hervorkriechen, und hat seinen rechten Arm bei ihr eingehakt. Sie hat lange graue Haare und eine rundliche Brille. Die beiden zwängen sich an unserem Auto vorbei. Er ist sehr alt. Ich sehe sein Gesicht, es ist ein bekanntes Gesicht. Er sieht mich nicht an. Ist das wirklich Erich Priebke?

Man könnte jetzt in die Tiefgarage des Supermarkts fahren, dort parken und das Mehl für Pancakes kaufen gehen. Aber dieses Gesicht ist beunruhigend, nichts ist in diesem Moment unwichtiger als das Mehl für amerikanische Pfannkuchen. Wir sitzen unbeweglich da, unser Auto steht still und versperrt die Straße. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die erste Hupe tönt. Ich bin für einen Moment erschrocken, ratlos und schockiert. Es ist ein Schrecken, der sich in lauter Fragen auflöst: War das wirklich Priebke? Das Alter würde passen, die Stadt auch. Sollte er nicht eigentlich im Gefängnis sitzen oder zumindest unter Hausarrest stehen? Warum läuft der hier frei herum?

Es hupt. Wir fahren ein Stück weiter und parken. Der Alte und seine Begleiterin sind längst außer Sichtweite. Einkaufen oder dem Nazi hinterher? Es sind bereits ein paar Minuten vergangen, er wird über alle Berge sein, so langsam lief er gar nicht. Aber man trifft ja auch nicht alle Tage auf einen verurteilten Mörder. Vor allem bleibt die Frage: War er das überhaupt oder liegt es auch diesmal wieder daran, dass ich denke, jedes zweite Gesicht zu kennen? Die Frage lässt sich nur beantworten, wenn wir ihn suchen.

Wir überqueren hastig die Straße, die Autos bremsen scharf ab. Auf der anderen Straßenseite sehe ich in der Ferne das Paar, gefolgt von zwei bulligen Typen mit gepolsterten Jacken und Turnschuhen. Sie biegen in die Villa Carpegna ein. Kein besonders schöner Park, eher ein Auslauf für Hunde. Manchmal spielen Pakistaner auf der Wiese Cricket.

Es ist lächerlich, hinter Erich Priebke herzulaufen. Aber wir folgen ihm, weil ich nicht glauben kann, dass dieser Mann hier frei herumläuft.

Ist das überhaupt Priebke, der Kriegsverbrecher und Mitverantwortliche für das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen in Rom am 24. März 1944, wo die Nazis 335 Menschen ermordeten? Wenn er es nicht wäre, warum laufen den beiden dann offenbar zwei Bodyguards hinterher, immer im gleichbleibenden Abstand von drei Metern?

Ich ziehe meinen kleinen Fotoapparat aus der Tasche und mache aus der Ferne ein paar Bilder. Vorne links der Alte, eingehakt bei der Frau, dahinter die zwei Schlägertypen. Ich zoome sein Gesicht heran. Die Augenbrauen sind buschig, die Nase ein pfeilgerader Strich, es ist ein Gesicht voller klarer Linien. Vielleicht war es mal ein schönes Gesicht. Er würde durchgehen als netter Greis, und vielleicht ist er das sogar. Auf der linken Wange von Erich Priebke haben sich Altersflecken ausgebreitet wie Seerosen auf einem Teich.

Seit einigen Jahren, seit mir meine römische Großmutter erleichtert versicherte, ich hätte ja gar kein SS-Gesicht, frage ich mich, wie so ein Gesicht wohl aussieht. Sie sagte das kurz nach meiner Ankunft in Rom, und es war als Kompliment gemeint. Die Großmutter hatte den Krieg erlebt, die deutsche Besatzung, und deshalb hatten sich die Gesichter der deutschen Soldaten in ihrer Erinnerung festgesetzt. Es waren Priebke-Gesichter. Alle Deutschen hatten für sie Priebke-Gesichter.

Und jetzt geht dieses Gesicht im Park spazieren. Vielleicht wäre es das Beste, einkaufen zu gehen und sich nicht weiter um diesen Menschen zu kümmern. Die Mischung aus Neugier und Fassungslosigkeit hinter sich zu lassen, diese irritierende Begegnung zu ignorieren. Aber es ist nicht einfach, Mehl für Pancakes zu kaufen, dazu vielleicht ein bisschen Speck und Ahornsirup, wenn man an einem sonnigen Frühlingstag in Rom einem verurteilten deutschen Kriegsverbrecher über den Weg läuft.

Priebke ist 97 Jahre alt, nach fast 50 Jahren Flucht in Argentinien begann 1995 in Rom eine Reihe von Prozessen gegen ihn; wegen des Massakers in den Ardeatinischen Höhlen, eine Vergeltungsaktion für einen Bombenanschlag auf deutsche Militärpolizisten. Der SS-Hauptsturmführer Priebke führte bei dem Massenmord Buch, er zählte, notierte die Namen jedes Einzelnen, der per Kopfschuss niedergestreckt wurde und tötete zwei Menschen eigenhändig. „Um der Truppe ein Beispiel zu geben“, so steht es im Urteil des Kassationsgerichts von 1998. Die Richter entschieden, dass Priebke wegen seines Alters und seines angeschlagenen Gesundheitszustands die lebenslange Haftstrafe im Hausarrest in Rom absitzen darf. Seither lebt er in der Wohnung seines Anwalts im Stadtviertel Aurelio.

Ich erinnere mich an die Priebke-Bilder vor einigen Jahren in der Zeitung. Auf einem sitzt er mit weißem Helm, Sonnenbrille und Trenchcoat als Beifahrer auf einem Mofa und hält sich unbeholfen an der Jacke des Fahrers, seinem Anwalt und Freund Paolo Giachini, fest. Ein absurdes, lächerliches Bild, wäre es nicht der Inbegriff der Ungerechtigkeit. Weil er alt ist und angeblich krank, muss Priebke nicht ins Gefängnis, aber zu einer Fahrt auf der Vespa reichen die Kräfte noch. Immer wieder durfte Priebke raus, eine Zeitlang erlaubte ihm das Gericht, täglich zum Arbeiten in das Büro seines Anwalts zu gehen. Das ist vorbei. Aber für einen Mörder wird Priebke milde behandelt, ausgerechnet er.

Priebke hat ein paar Mal in der Woche Ausgang, er muss seine Gänge bei der Polizei anmelden, die ihm zwei Zivilbeamte zur Begleitung abstellt. Ein bisschen schützen sie ihn, es könnte ja jemanden geben, der ihm auch nach so langer Zeit an den Kragen will, ein bisschen bewachen sie ihn, weil man einen verurteilten Mörder schließlich nicht ganz frei herumlaufen lassen kann.

Aber vor allem halten die Polizisten stoisch den Drei-Meter-Abstand zu den alten Leuten vor ihnen ein, wie Enkelkinder, die hinter Oma und Opa herlaufen müssen, obwohl sie keine Lust dazu haben. In dieser seltsamen, nicht unauffälligen, aber um Unauffälligkeit bemühten Begleitung darf Priebke einkaufen und in den Gottesdienst gehen. Er darf sich selbst um seine „unerlässlichen Bedürfnisse des Lebens“ sorgen, wie es in Paragraph 284 der italienischen Strafprozessordnung heißt. Vor zwei Jahren gab das römische Militärtribunal einem Antrag des Anwalts statt, bis vor einigen Monaten wusste fast niemand etwas davon.

Hat Priebke nicht längst seinen Teil Freiheit genossen, damals als angesehener Bürger in Argentinien? Priebke hat seine Beteiligung an dem Massaker öffentlich nie bereut. Bei Neonazis wird er gefeiert, die NPD wollte ihn im vergangenen Jahr für das Amt des Bundespräsidenten vorschlagen, angeblich mit seiner Billigung. „Niemals aufgeben!“ So steht es in Großbuchstaben auf seiner Homepage. Priebke ist ein Symbol und ein Revisionist in eigener Sache.

Sein Spaziergang in zügigem Schritt führt erst an den duftenden Pinien vorbei, dann hinter einer mannshohen Hecke am Rand der Wiese, auf der sich die Hunde balgen und Kinder spielen. Der Pfad geht schließlich leicht bergab, und am Ende des Parks führt Priebkes Weg über einen Seitenausgang wieder auf die Straße.

Mehrmals bleiben der Alte und die Frau, dem Alter nach könnte sie seine Tochter sein, für einige Augenblicke stehen. Auch die Polizisten halten an, stets im Drei-Meter-Abstand. Es sieht in diesen Momenten so aus, als koste der bald 100 Jahre alte Erich Priebke seine Freiheit aus. Niemand treibt ihn zur Eile an. Nach wenigen Sekunden läuft er weiter, und seine Begleiter folgen ihm.

Es ist ein unbehagliches Gefühl, diesen Mann hier spazieren gehen zu sehen. Mir schießen Fragen in den Kopf, ohne Zeit für Antworten zu lassen: Darf dieser Mann hier herumlaufen? Es sind dieselben Fragen, die sich auch im Fall des gerade zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilten KZ-Wächters John Demjanjuk, 91, stellen: Muss ein Verbrecher todkrank sein, um dem Kerker zu entgehen oder genügt es, uralt zu sein? Alter und Krankheit wiegen die Schuld nicht auf, aber wie unmenschlich ist es, einen alten und kranken Menschen einzusperren? Wäre das Gerechtigkeit oder sind die Gebrechen des Alters Strafe genug?

Der Fall Priebke liegt noch extremer, bei ihm handelt es sich um einen offensichtlich wackeren Greis. Genügt allein das Alter, um der gerechten Strafe zu entkommen? Was ist in diesem Fall gerecht? Aber warum soll ein Greis, auch wenn er vor fast 70 Jahren an einem Massenmord beteiligt war und keine Reue zeigt, nicht zweimal in der Woche eine kleine Runde im Park drehen dürfen? Kann er sich frei fühlen? Kann man sich jemals frei fühlen, wenn man Menschen auf dem Gewissen hat? Darf sich Priebke frei fühlen oder soll er büßen, bis zum Ende?

Priebke war nie lange im Gefängnis, er hat ein halbes Jahrhundert unbehelligt in Südamerika gelebt. Während seines Hausarrests in Rom ist er Vespa gefahren. Kranke Menschen fahren nicht Vespa. Was wäre, wenn ihn hier jemand den Frühling genießen sähe, jemand, der seinen Vater beim Massaker in den Ardeatinschen Höhlen verloren hat? Dieser Frühlingsspaziergang ist Gnade für einen, der selbst keine Gnade kannte. Aber vielleicht ist es gerade deshalb richtig, dass der Mann eine Runde durch den Park drehen darf. Jeder verdient einen kurzen Spaziergang am ersten Frühlingstag des Jahres, selbst ein verurteilter Mörder.

Wir bleiben noch eine Weile auf einer Parkbank sitzen. Neben uns unterhalten sich zwei alte Frauen und genießen die Sonne. Meine Neugier ist Ekel und unbequemen Fragen gewichen. Ich will jetzt nichts mehr mit Priebke zu tun haben. Wir drehen um, überqueren die Straße und gehen in den Supermarkt.

Die Gemüseabteilung liegt gleich hinter dem Drehkreuz am Eingang. Ich stecke drei Zucchini in eine Plastiktüte und gehe zur Waage. Dann nehme ich ein paar Auberginen und sehe einen der beiden Polizisten. Er steht nur ein paar Meter von mir entfernt planlos herum. Dann taucht die Frau auf, bei der Priebke sich eingehakt hatte. Ich erkenne ihre langen grauen Haare, sie trägt eine Military-Hose.

Und da ist Priebke. Er hat immer noch die Schildmütze auf, er wirkt schmal. Sein Gesicht ist auf das Weinregal gerichtet. Er begutachtet die Flaschen. Erst das Rotweinregal, dann den Weißwein. Ich stehe zwei Meter von ihm entfernt. Zwei Meter hinter einem, der aus der gleichen Entfernung wehrlosen Menschen in den Kopf geschossen hat. Er wendet mir den Rücken zu. Dann geht der 97 Jahre alte Mann elegant in die Knie und nimmt eine Dreier-Konfektion kleiner Prosecco-Flaschen aus dem untersten Regal. Priebke trinkt Piccolo, denke ich. Er zeigt die Konfektion der Frau, die seine Tochter sein könnte. Es wirkt so, als bitte hier einer um Erlaubnis für einen Schwips.

„Es war und ist ein schwerer Leidensweg, aber ich habe nie den Mut verloren und auch nicht die Hoffnung, noch einmal die goldene Freiheit genießen zu können“, heißt es auf seiner Internetseite. Priebke sieht sich als Verfolgter, das klingt wie Hohn. Kommt es überhaupt darauf an, was dieser Mann fühlt und denkt? Wenn nicht, dann wäre es auch unerheblich, ob er bereut. Man müsste einfach wissen, was die richtige Strafe für ihn ist.

Priebke geht spazieren, er geht einkaufen und in die Kirche. Und er geht abends aus. Vor kurzem veröffentlichte die italienische Klatschzeitung Oggi Bilder, auf denen man den 97-Jährigen sieht, wie er mit fünf Personen aus einem Restaurant im Nobelviertel Parioli kommt. Drei Männer, zwei Frauen und Priebke, keiner der Begleiter wirkt älter als 50 Jahre, alles junge Leute aus Priebkes Sicht. Er sieht gut aus für einen 97-Jährigen, sehr gut. Auf einem Bild lächelt er, auf einem anderen sieht es so aus, als gebe eine der Frauen Priebke einen Kuss.

Es ist eine Dreiviertelstunde vergangen, seitdem wir ihn zum ersten Mal gesehen haben, und der Alte wirkt kein bisschen müde. Priebke studiert das Regal mit der Pasta. Die Polizisten kommen dazu, einer hält ein Stück Pecorino in der Hand. Auf Italienisch mit starkem deutschen Akzent sagt die Frau: „Wir nehmen immer diese Pasta. Stimmt’s Erich?“ „Ja, ja“, murmelt Priebke. Einer der Polizisten sagt: „Voiello ist wirklich die beste Pasta“. Dann macht der Polizist einen Witz. Priebke lacht, die Frau lacht. Es ist ein entspannter Wochenend-Einkauf.

Wir streifen durch die Supermarktgänge, angezogen und abgestoßen, bleiben schließlich beim Kühlregal stehen, um Abstand zu gewinnen. Ich habe eine Packung Tiefkühlerbsen in der Hand und weiß nicht warum.