Jogger im Koma: Allein unter 3,7 Millionen Berlinern
Niemand kennt den Berliner Jogger aus Wilmersdorf. Ein Nachbar identifizierte nur seinen Schlüssel. Ein Aufruf an alle Nachbarn.
Berlin. Einsamkeit ist schwer zu fassen. Manche suchen sie, andere entrinnen ihr nicht mehr. An manchen Tagen wieder, da muss das Wort „Einsamkeit" unsere Gesellschaft schmerzen wie ein Brandzeichen. An diesem Donnerstag ausgelöst durch eine schlichte Meldung der Berliner Polizei: „Jogger aus Wilmersdorf identifiziert", stand dort.
Hinter diesen vier Worten steckt eine brutale Geschichte: Am 13. März 2018 bricht 74 Jahre alter Mann im Volkspark Wilmersdorf zusammen und fällt ins Koma. Niemand kennt ihn. Das Internet und die Zeitungen sind schnell voll mit Fotos von ihm. Deutschlandweit. Niemand kennt ihn. Der Mann trug nur ein paar Münzen und Schlüssel bei sich. Mit den Schlüsseln suchen Polizisten die Nachbarschaft ab. Er kann nicht so weit gejoggt sein. Auch das: erfolglos. Niemand kennt ihn.
Nur sein Schlüssel wurde erkanntAm Mittwoch nun der Ermittlungserfolg. Ein Nachbar meldete sich bei der Polizei. Er hat ihn erkannt. Endlich, nach vier Monaten: den Schlüssel. Nicht den 74-Jährigen, der seit 30 Jahren im gleichen Haus lebt: seinen Nachbarn. Niemand kennt ihn. Für die Menschen nebenan ist er nur ein Schlüssel.
Momentan wissen wir zu wenig, um die Lebensverhältnisse des Joggers beurteilen zu können. Und doch sorgt uns der Fall: Sorgt uns, allein zu sein. Allein in Berlin. Unter 3,7 Millionen Menschen. Umkippen und niemand ist da. Nur noch fernsehen, essen und schlafen. Wer diese Angst nicht hat, er kann sich wohl glücklich schätzen.
Wer einsam ist, empfindet die Welt als bedrohlichIn Berlin wohnen 49 Prozent der Menschen in Single-Haushalten. Studien zufolge fühlen sich etwa 10 Prozent aller Deutschen häufiger einsam. Im Alter sei es jeder Fünfte. Ein Forscher aus Chicago erklärte vor einiger Zeit: Auch Misstrauen und negative Gedanken seien Gründe dafür.
Menschen, die sich einsam fühlen, empfinden die Welt eher als bedrohlich. Wer sich ausgeschlossen fühlt, zieht sich oft selbst zurück. Nehmen wir an, der Forscher hat recht, stellt sich die Frage: Wie entkommen wir dieser „Isolation Berlin"?
Achten wir aufeinander- nicht auf die SchlüsselSicherlich, es gibt nicht so etwas wie den Impfstoff gegen Einsamkeit. Lebensläufe sind oft nicht planbar. Aber vielleicht können wir doch irgendwo anfangen: Schauen wir den Menschen um uns doch häufiger in die Augen, statt ihnen zu misstrauen. Lächeln wir dem Nachbarn zu, statt uns zu sorgen, dass er Unruhe ins Haus bringt.
Und vielleicht klingeln wir nach Feierabend mal wieder an der Tür des alten Mannes nebenan, den wir länger nicht gesprochen haben. Im besten Fall nur, um ihn kurz zu fragen, wie es ihm geht. Achten wir aufeinander - nicht nur auf unsere Schlüssel.
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