Depeche Mode spielen in Berlin die letzten Konzerte ihrer Welttournee. Sie sollten besser nie damit aufhören. Eine Liebeserklärung.
Berlin. Es gibt diese Abende im Leben, die ändern etwas. Da verliebt man sich neu - oder entdeckt eine alte Liebe wieder. Abende, an denen die Sonne langsamer untergeht als sonst und die Luft ein bisschen frischer scheint. Am bewegendsten sind solche Abende, wenn man sie nicht kommen sieht.
Für den Reporter, der skandalträchtig im weißen Fleetwood-Mac-Shirt zum Konzert von Depeche Mode kam, war Montag so ein Abend. Der Auftritt der britischen Synth-Pop-Helden von Depeche Mode in der Waldbühne: ein riesiges, vergängliches Spektakel. Für die Fans, das sagten die Gesichter der über 20.000 in der Waldbühne. Aber auch für Menschen, die Depeche Mode bislang zwar für geschichtsträchtigen, aber doch ausgenudelten Radio-Rock hielten. So wie der Autor.
Wie lässig kann eine Band sein, die wie ein Modemagazin heißt?Wie kann eine Band denn lässig sein, die ihren Namen einem französischen Modemagazin entliehen hat? „Dépêche Mode", was auf deutsch etwa „Mode-Telegramm" bedeutet. Aua. Wie kann eine Band cool sein, deren schwarzer Industrial-Style das letzte Mal vor 20 Jahren so richtig cool war? Wie kann eine Band aufregend sein, deren Songs man tausendfach im Radio gehört hat? Genauso wie diese ganzen Autofahrlieder von Mike and the Mechanics deren Titel niemand kennt, aber jeder mitsummen kann.
„Words like violence, Break the silence" - morgens am Küchentisch, ein Auge noch schlafverklebt. Schnell das Radio aus: Niemandem kann man es verdenken, der den Depeche-Mode-Überhit „Enjoy the Silence" nicht mehr hören kann. Der ist auch schon 28 Jahre alt.
Entsprechend gering also die Erwartungen an dieses Berlin-Konzert, das vorletzte der gigantischen „Global-Spirit"-Tour. Mit der Tournee sprengen die britischen Synth-Rocker alle eigenen Rekorde: 2,5 Millionen Menschen haben ihre Konzerte besucht, mehr als 200 Millionen Dollar sollen sie eingenommen haben - drei mal spielten sie in dieser Zeit schon in Berlin. Und am Mittwoch treten sie nochmal auf. Der bombastische Abschluss soll das werden. Einer Tour, mit der sie im vergangenen Jahr so viel Geld eingenommen haben wie kein anderer Künstler auf der Welt - nicht mal Ed Sheeran. Blutleerer Kommerz-Pop also, fragt man sich.
Frontmann Dave Gahan wirbelt wie ein DerwischDie Waldbühne ist - natürlich - ausverkauft am Montag. Schon Stunden vor Konzertbeginn ist das Amphitheater gut gefüllt. Mehr als 20.000 Menschen jubeln dem derwischhaften Frontmann Dave Gahan, Martin Gore - der Geburtstag hat - und Andrew Fletcher zu. Bereits Tage vor dem Konzert campieren die ersten Fans in Wurfzelten vor der Waldbühne. Irgendwas also muss dran sein am Mythos um diese Band.
Bevor sie aber die Bühne betreten, spricht allerdings wenig für einen außergewöhnlichen Abend. Die Sommersonne brennt auf den Gesichtern der Zuschauer, vorn auf der Bühne versuchen die Elektro-Punk-Poeten von DAF „einzuheizen", wie das immer so der Plan ist. Das gelingt nur spärlich.
Doch als DAF verschwunden sind, kippt alles. Es soll ein brutal guter Abend werden, beschließen die Fans. Die, die unten vor der Bühne stehen, lassen eine Welle nach der anderen durch das weite Rund wogen. Luftballons werden geschwenkt. Selbst der Techniker darf sich im Applaus sonnen.
Die Droge Depeche Mode entfaltet WirkungAls die echte Sonne dann fast verschwunden ist, betritt Frontmann Dave Gahan die riesige Bühne. Zurückgegelte Haare, dünner Schnurrbart, kajalumwitterte Augen, rote Schuhe. Wenn er die Augen aufreißt, sieht er aus wie eine noch zugedröhntere Version von Falco. Dazu knallt der Bass, dass die Luft anfängt zu flimmern. Was für ein Sound.
„We are not there yet", singt der 56-Jährige die erste Zeile ihres Songs „Going Backwards" und windet sich dazu wie ein Derwisch. Ein grauhaariger Mann, der mit seiner kleinen Tochter und Lebensgefährtin vor dem Reporter sitzt, springt auf. Windet seine Arme, als sei er Gahan selbst. Schließt die Augen, als sei das hier das berüchtigte Berghain und kein Montagabend, sondern ein Sonntagmorgen. Der Blick seiner Partnerin wird glasig. Die eigene Gänsehaut zeigt, wie die Droge Depeche Mode langsam ihre Wirkung entfaltet.
Und Gahan, dieser Gigant, dieser betörende Clown, hört nicht auf. Mehr als zwei Stunden lang nicht mehr, bis die letzten Takte des letzten Songs „Personal Jesus" verhallt sind. Er schwingt seine Hüften, dreht Pirouetten, und selbst das 28 Jahre alte „Enjoy the Silence" stampft heute wie ein Techno-Hit der späten Nullerjahre. Auf den großen Leinwänden rechts und links von ihm prangen psychedelische Nutztiere. Schweine, Schafe, Gänse strahlen wie verseucht.
Freunde umarmen sich, als sei dies ihr letzter AbendVergessen, dass man hier unter freiem Himmel ist. Menschen rutschen zusammen. Paare küssen sich innig, Freunde umarmen sich, als sei dies ihr letzter Tag. Ein älterer Herr schaut einem direkt ins Gesicht. Er steht ganz still. Schaut in das dunkle Amphitheater, dass von euphorischen Stroboskop-Lichtern durchzuckt wird. Dann lächelt er.
Was kann so gut sein, an einem Konzert, dass dutzendfach gespielt wurde? Dave Gahan selbst sagte kürzlich über seine Konzerte: „Großartige Shows sind eher selten." An diesem Abend aber haben sie Großartiges geliefert.
Oft verlieren Lieder bei größeren Shows im Vergleich zur Studio-Aufnahme. Nicht so bei Depeche Mode. Die Eindringlichkeit, die Unmittelbarkeit und die Lautstärke mit der einem Dave Gahan, Martine Gore und Andrew Fletcher ihre Songs entgegenpeitschen, ist brutal. Ihre Version von „Everything Counts", die langsam und schief austrudelt,verfolgt einen bis in die Träume
Glücklich schätzen darf sich, wer Karten hat, für das letzte - natürlich ausverkaufte - Konzert am Mittwoch. Denn hier in Berlin, wo die Briten seit den 80ern drei Alben aufnahmen, soll, so der logische Schluss, auch die gigantische Tour enden. Man möchte das nicht, dass es aufhört. Und bereut, diese Band je belächelt zu haben.
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