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Einem Buch das Leben erzählen

Tagebuchschreiben ist zunächst eine überaus persönliche Angelegenheit. (Foto: Juliane Ziegler)

Tagebuchschreiben habe heilsame Wirkung, sagt die Therapeutin Silke Heimes. Es gibt aber auch Grenzen.


Bereits in der Antike notierten Herrscher Höhepunkte ihres Lebens; später hielten Theologen und Philosophen den Alltag fest - das Tagebuch als Chronik. Dann, vor allem seit der Renaissance, entstand ein Ich-Kult. Tagebüchern kommt verstärkt die Funktion zu, das eigene Leben zu reflektieren.


Viele Künstler, Politiker und Wissenschafter nutzen Tagebücher als Werkstatthefte, oder sie beschreiben Entwicklungsprozesse: etwa Käthe Kollwitz, Andy Warhol, Kurt Cobain oder Che Guevara. Schriftsteller wie Goethe, Franz Kafka, Heinrich und Thomas Mann, Virginia Woolf, Max Frisch oder Selma Lagerlöf dokumentieren in Tagebüchern ihre Ideen und Beobachtungen. Im Exil lebende Autoren - Hilde Domin oder Anna Seghers - nutzen das Schreiben, um ihre Situation zu verarbeiten. Schrift und Sprache verbindet sie weiterhin mit ihrer Heimat.


Seelenhygiene

"Schreiben hat viele Funktionen: Selbstreflexion, Erkenntnis, es hilft bei Entscheidungsprozessen, ist Verarbeitung und entlastet von bestimmten Dingen", sagt Silke Heimes. Sie ist Ärztin und leitet das Institut für Kreatives und Therapeutisches Schreiben in Darmstadt. "Schreibt man regelmässig, kann es so etwas wie eine Seelenhygiene sein."

Wer schreibt, hält inne, fokussiert sich. Der Schreibprozess unterstützt das Nachdenken und fördert unbewusste Assoziationen. Dadurch kann man neue Sichtweisen bekommen und Vergangenes verarbeiten. Während in den USA Poesietherapie neben Therapieformen wie Tanz-, Musik- oder Drama-Therapie längst anerkannt ist, spricht man bei uns eher von "kreativem und therapeutischem Schreiben". Für viele Menschen habe es einen kränkenden Aspekt, Therapie in Anspruch zu nehmen, erklärt Silke Heimes. "Insofern fällt es manchen leichter zu sagen: Ich arbeite kreativ."


"Was ich auf dem Herzen habe, muss heraus, und deshalb schreibe ich." Ludwig van Beethoven


Vor allem im psychiatrischen und psychotherapeutischen Bereich wird diese Therapie angewendet, bei Angststörungen, Suchterkrankungen, Burnout oder Depressionen. Daneben wird Schreibtherapie in der Trauer- und Sterbebegleitung eingesetzt, in der Sozialarbeit oder in der Kinder- und Jugendarbeit. Zum Beispiel, um das Selbstwertgefühl zu stärken, die Kommunikationsfähigkeit zu verbessern oder zur sozialen Integration.

Schreibtherapie gibt es in der Gruppe oder im Einzelgespräch. Zwar sollte das Papier ein absoluter Schutzraum sein, betont Therapeutin Heimes, doch das Präsentieren der Texte kann ein wichtiger Aspekt sein, denn gerade in der Gruppe erfahren die Schreibenden, dass sie mit vielem nicht alleine sind. "Das sind Phänomene wie: ‹Der Text und ich sind es wert, gehört oder gelesen zu werden.› Dabei findet eine Anteilnahme statt, vielleicht Empathie", so Heimes.


Nicht geeignet bei Trauma

Schreib-Regeln gibt es keine. Aber es kann zum Beispiel helfen, die Perspektiven zu wechseln - einmal in der Ich-Form zu schreiben, dann in der dritten Person. Dadurch entsteht Distanz zu einem Erlebnis. Oder die Zeiten variieren: Im Präsens geschrieben wirken Probleme näher als in der Vergangenheitsform.


Doch nicht immer sei Poesietherapie empfehlenswert, sagt Heimes. So kann das Schreiben für manche zu einer Art Zufluchtsraum werden, der keinen Kontakt mehr zur Aussenwelt zulässt. Dann wird das Innere permanent reflektiert - man dreht sich im Kreis. Oder wenn Themen behandelt werden, die stark belasten, ist die Therapie nicht geeignet. Heimes: "Bei traumatisierten Patienten rein auf das Schreiben zu vertrauen, halte ich für problematisch."


"Schreiben heisst, sich selber lesen." Max Frisch


Sie hat beobachtet, dass kontinuierliches Schreiben sprachsensibler macht. Eine ihrer Patientinnen, suizidgefährdet, schrieb: "Ich will mir das Leben nehmen." Dann las die Patientin den Satz nochmals und sagte: "Warum mache ich das nicht endlich, warum greife ich nicht zu und nehme mir das Leben? Also mit beiden Händen zugreifen und wieder ins Leben gehen." So etwas könne entstehen, wenn man die Worte beim Wort nehme, sagt Silke Heimes.


Sie ist Hilfe zur Selbsthilfe, ergänzend zu anderen Therapien und relativ kostengünstig: Wenn Poesietherapie so viele Vorteile mit sich bringt, warum ist sie dann hier - verglichen mit den USA - so wenig etabliert? Dahinter ständen einerseits Ressentiments, andererseits Lobbyismus, sagt Silke Heimes: "Wir können viel von Amerika lernen. Dort gibt es natürlich auch eine Pharmaindustrie. Aber ich glaube, dass die Amerikaner weniger eine Schere im Kopf haben. Das sieht man auch an den Unis: An jeder Hochschule gibt es Creative Writing. Bei uns wird es eher belächelt."

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