FREIBURG, im August. Die alte Dame ist außer sich. Dort im Fernsehsessel habe ihr Ehemann gesessen, beharrt sie und deutet auf den leeren Platz. Er habe auf sie gewartet und sie angestarrt. Der Polizist, der sich ihre Geschichte geduldig anhört, weiß bald nicht mehr weiter. Der Ehemann der Seniorin ist vor wenigen Tagen gestorben. Soll er die Frau in eine psychiatrische Klinik bringen? Dann beschließt er, sich woanders Rat zu suchen. Er wählt die Nummer der Parapsychologischen Beratungsstelle in Freiburg. Walter von Lucadou und seine Kollegen kennen solche Geschichten. Die griechische Vorsilbe „para" deutet es schon an: Die Parapsychologie befasst sich mit abseitigen Vorkommnissen. Die Freiburger Berater helfen Menschen, die von Begegnungen mit Verstorbenen oder unerklärlichem Gepolter berichten.
Walter von Lucadou, ein bedächtiger Mann in cremefarbenem Jackett und hellblau gestreiftem Hemd, nimmt den Besucher in seinem Büro in Empfang. An der holzvertäfelten Wand hängen leicht vergilbte Schwarzweißfotografien von Hans Bender und Max Dessoir, den Urvätern der Spukforschung. Aktenordner und Bücher stapeln sich um den massiven Schreibtisch, auf einer Kommode steht ein alter Commodore-64-Computer. Mit seiner Brille und dem akkurat gestutzten, graumelierten Spitzbart erinnert Walter von Lucadou an einen Bibliothekar. Schon in seiner Jugend begann der Zweiundsiebzigjährige, sich mit Spukphänomenen zu befassen. Der Forscher mit dem hugenottischen Namen promovierte zunächst in Physik und Psychologie. 1989 eröffnete er die Beratungsstelle, in der aktuell vier Mitarbeiterinnen arbeiten, unter ihnen Psychologinnen, Ethnologinnen und Sozialpädagoginnen.
Es ist in ganz Deutschland die einzige Anlaufstelle für Spukgepeinigte. Das sei fatal, findet von Lucadou. Eine repräsentative Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach zeigt, dass 73 Prozent aller Deutschen schon mindestens einmal ein sogenanntes subjektiv paranormales Erlebnis hatten. Sie berichten von Begegnungen mit Verstorbenen, Wahrträumen oder Déjà-vu-Erfahrungen. „Zwei Drittel der Deutschen sind betroffen - und nur wir erklären ihnen, was sie tun oder wie sie sich verhalten sollen", sagt von Lucadou. „Das ist doch unbegreiflich." Das Land Baden-Württemberg bezuschusst die Einrichtung zwar, aber von Lucadou ist auf Spenden angewiesen.
Die Nachfrage ist groß. Mehr als 3000 Personen rufen jedes Jahr die Freiburger Hotline an und berichten allerlei Absonderliches. Oftmals beginnen die Anrufe mit Sätzen wie: „Ich weiß nicht, ob ich bei Ihnen richtig bin. Mir ist da etwas Seltsames passiert."
Manche Klienten kommen auch persönlich vorbei, um endlich handfeste Erklärungen für das Unbegreifliche zu bekommen. Und der Ort könnte nicht passender sein: Die herrschaftliche Gründerzeitvilla, in der die Klienten in einer engen Altbauwohnung auf einer schweren Ledergarnitur Platz nehmen, würde sich auch als Kulisse für einen Gruselfilm eignen. Lampen tauchen die hohen Räume mit Stuckdecke, die selbst tagsüber dunkel sind, in gelbes Licht. In den Ecken stehen Büsten - und ein schwarzes Spukschloss aus Pappe.
Viele Menschen haben eine lange Odyssee hinter sich, bevor sie den Mut fassen, sich an die Beratungsstelle zu wenden. Sie wurden von ihren Mitmenschen ignoriert, belächelt und teilweise für psychisch krank erklärt. Hinter den wuchtigen Wänden der Villa nehmen von Lucadou und seine Kollegen die Ratsuchenden ernst. „Wir schenken den Geschichten erst einmal Glauben und hören einfach zu", sagt von Lucadou. Und das unentgeltlich.
Sarah Pohl, eine promovierte Pädagogin, arbeitet seit sieben Jahren als Spukberaterin. Auch an diesem Tag steht das Telefon nicht still. Immer wieder springt Pohl aus dem Ledersessel und verlässt den Raum, um Anrufe entgegenzunehmen. Aus Erfahrung weiß sie: Nicht jeder, der von Stimmen aus dem Teekessel oder schemenhaften Gestalten berichtet, die nachts am Fußende des Betts auftauchten, ist verrückt. Sie glaubt, dass die Beratungsstelle dem Gesundheitssystem hohe Kosten erspart. „Natürlich kann dahinter immer auch eine psychische Krankheit stecken. Doch nicht jeder braucht eine teure Therapie." Meist erkennen die geschulten Berater rasch, wer sich etwa in Phantasien über Dämonen hineinsteigert und wirklich eine Behandlung braucht.
Die alte Dame, die ihren verstorbenen Ehemann im Sessel sitzen sah, litt wohl nicht unter einer Psychose. Die Fachleute vermuten, dass das Gehirn der Seniorin einen Streich gespielt habe. Fehlende Informationen im schon bekannten Kontext werden kognitiv automatisch ersetzt. Im Alltag passiere uns das öfter, sagt von Lucadou. Die fehlende Information war in diesem Fall der Ehemann im Sessel, in dem die Rentnerin ihn hatte jahrzehntelang sitzen sehen. „Vielen Anrufern hilft es auch schon, wenn ihnen nur einmal jemand vorurteilsfrei zuhört, wenn sie überhaupt jemanden haben, mit dem sie sprechen können", sagt Sarah Pohl.
Zufall, Betrug oder technische Ursachen - meist finden die Spukspezialisten für scheinbar übersinnliche Vorkommnisse rasch ganz profane Erklärungen. Ähnlich simpel war die Lösung des Rätsels um eine Schlagerkassette, die eine andere Seniorin in Angst und Schrecken versetzte. Angeblich soll sie immer wieder unverständliche Botschaften des Schlagersängers Roy Black aus dem Jenseits übertragen haben. Die verzweifelte Frau ging zum Psychiater und bekam Medikamente gegen Halluzinationen. Doch die Stimme war noch immer da. Schließlich wandte sie sich an die Beratungsstelle. Dort untersuchte von Lucadou die Kassette. Und nach ein paar Minuten war der Fall schon geklärt: Das Tonband drehte sich immer wieder um 180 Grad und spielte die falsche Seite rückwärts ab.
Erst wenn technische Ursachen ausgeschlossen sind, stoßen die Forscher an die Grenzen des Erklärbaren. Dann zieht von Lucadou auch etwas anderes in Betracht: einen klassischen Spuk. Wie im dramatischen Fall einer Familie aus Baden. Erst klapperten in der familieneigenen Gastwirtschaft nur Türen. Dann wollten Haustiere die Wirtschaft nicht mehr betreten, und das Neugeborene eines befreundeten Paars begann immer fürchterlich zu schreien, wenn es in das Haus kam. Schließlich schilderten die Wirtsleute Schauerliches: Bierfässer sollen durch den Keller gerollt und ein Küchenmesser an der Hausherrin vorbeigeflogen und neben ihr in der Wand stecken geblieben sein. Das verzweifelte Ehepaar, das die Wirtschaft schon verkaufen und wegziehen wollte, wandte sich an Walter von Lucadou.
Die Spukdetektive begannen mit ihrer Ermittlungsarbeit. Trieben Geister ihr Unwesen in dem Gasthaus? „Natürlich nicht", sagt von Lucadou. Gespenster, Dämonen und Stimmen aus dem Jenseits gebe es sicher nicht. Die Erklärung für Spuk sei vielmehr eine psychologische. Bald fand von Lucadou heraus, dass sich diese Vorfälle immer dann ereigneten, wenn der Ehemann der Wirtin außer Haus war. Er ging tagsüber einem Job im Nachbarort nach, anstatt seiner Frau in der Wirtschaft zu helfen.
Das war der entscheidende Hinweis: Die Forscher vermuteten nun, dass die Wirtin - unbewusst - die Fässer rollen und das Messer fliegen ließ. „Es war quasi ein Ventil, um ihren Frust darüber, dass ihr Mann nicht da war, zu kanalisieren", sagt von Lucadou. Die Theorie: Spuk funktioniere ähnlich wie eine psychosomatische Störung. Wenn Menschen gestresst seien oder ein ungelöstes Problem hätten, dann äußere sich das häufig in körperlichen Symptomen, etwa Bauchschmerzen oder Schweißausbrüchen. „Bei Spuk zeigt sich dieses Problem dann aber nicht als Störung des eigenen Körpers, sondern äußert sich außerhalb des Körpers, in der Umgebung." Etwa durch das Bewegen von Gegenständen durch Gedankenkraft, der Psychokinese. Damit mache eine Person ihre Umgebung unbewusst auf ein seelisches Problem aufmerksam.
Die Psyche lässt Messer fliegen und Fässer rollen? Freilich ist diese Theorie unbewiesen. Das haben Psi-Phänomene so an sich. Unter dem 23. Buchstaben des griechischen Alphabets werden alle Phänomene zusammengefasst, die sich nicht mit wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten erklären lassen.
Das ist ein Grund, warum die Wissenschaftsgemeinde die Parapsychologie nicht ernst nimmt und Parapsychologen oft belächelt. Für Skeptiker ist Spuk nur Betrug, Zufall oder schlicht die Einbildung eines psychisch Kranken. Das nimmt von Lucadou mit einem Schmunzeln zur Kenntnis. Psi lässt sich eben nicht empirisch nachweisen, auch wenn es viele namhafte Universitäten versucht haben. In den Kellerräumen von Princeton gingen Forscher jahrelang der Frage nach, ob ein Mensch qua Gedankenkraft eine Maschine steuern kann. Gelungen ist es bislang nicht. Ein Spuk lässt sich kaum ins Labor holen.
Dennoch arbeitet von Lucadou unermüdlich daran, Psi doch noch zu entschlüsseln. Dabei hilft ihm sein Wissen als promovierter Physiker. Auch in physikalischen Systemen existierten schließlich Korrelationen, die nicht kausal zusammenhingen und mit dem gesunden Menschenverstand nicht erklärbar seien. Etwa in der Quantenphysik. „Dort lässt sich experimentell eine ,Nichtlokalität' nachweisen: Messungen an einem Elementarteilchen können die Messung an einem weiteren, weit entfernten Teilchen direkt beeinflussen, und das ohne eine erkennbare physikalische Wechselwirkung." Die beiden räumlich getrennten Teilchen scheinen noch immer eine Einheit zu bilden, sie sind verschränkt. Von Lucadou vermutet, dass sich das auch auf Spukphänomene übertragen ließe. Die Großmutter stirbt, und Kilometer entfernt fällt ihr Bild von der Wohnzimmerwand des Enkels. Zufall? Oder doch eine quantenmechanische Verschränkung wie bei den kleinsten Teilchen?
Für die einen klingt das visionär, für die anderen hanebüchen. Der Physiker Philippe Leick von der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) etwa warnt davor, ein physikalisches Prinzip einfach auf einen anderen Zusammenhang zu übertragen. „Diese Verschränkung, von der die Rede ist, läuft nur in allerkleinsten Teilchen ab, und selbst da lässt sie sich nur unter Aufbietung aller Tricks der Experimentalphysik für Sekundenbruchteile aufrechterhalten. Sie ist nicht pauschal auf Tische, Stühle, herabfallende Bilder oder den Menschen übertragbar." Das sei reines Wunschdenken, sagt Leick. Die alltägliche Welt bestehe aus Objekten, die zwar lokal miteinander in Wechselwirkung stünden, aber eben nicht verschränkt seien. „Es stimmt zwar: Quanteneffekte sind seltsam. Aber nicht jedes seltsame Phänomen lässt sich mit Quantenphysik erklären."
Davon abbringen lässt sich Walter von Lucadou trotz der Kritik nicht. Viel wichtiger als das Wie des Spuks ist ihm aber etwas anderes. Er will mit seiner Arbeit den Menschen helfen, indem er ihnen klarmacht, dass Spuk nichts Bedrohliches ist. „Wenn man sich vor Augen hält, dass Spuk ein Alarmsignal ist, mit dem der Körper auf ein Problem hinweist, dann verliert er seinen Schrecken: Er ist dann nicht destruktiv, sondern protektiv."
Im mysteriösen Fall des Gasthauses, in dem angeblich ein Messer durch die Luft flog, nahm zumindest der Gastwirt das Alarmsignal ernst: Der Mann kündigte seinen Job im Nachbardorf, um seiner überlasteten Ehefrau zu helfen. Fortan ging kein Mobiliar mehr zu Bruch. Das sei das Gute an einem Spuk, sagt der Parapsychologe von Lucadou: „Sobald das seelische Problem gelöst ist, hört er auf."