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Suizid im Alter - "Es hat doch alles keinen Sinn mehr"

Vergessene Tragödie: Viele ältere Menschen nehmen sich das Leben. Dabei wäre ihnen zu helfen.

(Foto: cydonna / photocase.com)

Adolf Merckle war 74, Gunter Sachs 78 und Otto Beisheim 89 Jahre, als jeder für sich beschloss, sein Leben zu beenden. Hinter diesen Prominenten verbirgt sich ein Phänomen, das überdurchschnittlich häufig vorkommt und dennoch tabuisiert ist: Suizid im Alter.

Es war eine einfache, verwitterte Holzbank hinter dem Pavillon im Ismaninger Schlosspark. Hierhin schob der 74-Jährige seine gehbehinderte Frau an diesem kalten Samstagnachmittag im November. Diesen Platz hatten sie ausgewählt. Für ihren erwachsenen Sohn hinterließen sie zu Hause zwei Abschiedsbriefe. Beide wollten nicht mehr weiterleben. Ihr ging es immer schlechter. Ihrem liebsten Hobby, dem Reisen, konnten beide nicht mehr nachkommen. Das Wohnmobil, in dem sie viel Zeit verbracht hatten, hatte nun ausgedient. Zu anstrengend wären die Fahrten für die immer schwächere 75-Jährige geworden. Im Juli war sie in ein Seniorenstift gezogen. Um 14.45 Uhr beendete das Ehepaar sein Leben.

Fast jeder zweite Suizident ist älter als 60 Jahre

In Deutschland töten sich etwa 10 000 Menschen im Jahr. Die Zahl der Suizide ist damit mehr als doppelt so hoch als die der Verkehrstoten. Knapp 40 Prozent der Suizidenten sind älter als 60 Jahre - alle zwei Stunden, so die traurige Rechnung, nimmt sich ein Mensch jenseits der 60 in der Bundesrepublik das Leben. Nimmt man die sogenannten stillen oder verdeckten Suizide hinzu, ist die Zahl deutlich höher: Wenn alte lebensüberdrüssige Menschen bewusst die Nahrungsaufnahme verweigern, Medikamente nicht mehr einnehmen oder überdosieren - etwa zu viel Insulin spritzen - kann dies tödliche Folgen haben, ohne dass die Suizidabsicht erkannt wird. Auch nehmen Ärzte bei kranken Menschen in hohem Alter eher einen natürlichen Tod an und stellen Totenscheine aus, ohne die Hintergründe genauer zu prüfen.

Die Gründe für den Suizid im Alter sind vielfältig. Experten unterscheiden drei Ursachenfelder: Dazu gehören zunächst körperliche Krankheiten ohne Aussicht auf Genesung. Darüber hinaus gelten psychische Erkrankungen oder Schwierigkeiten bei der Gewöhnung an veränderte Lebensumstände im Alter als Auslöser. Ältere Menschen büßen an Mobilität und Autonomie ein - vielleicht sogar an Einfluss, den sie in einer Familie oder einem Unternehmen jahrzehntelang ausgeübt haben. Der dritte Bereich sind Beziehungsprobleme: Wenn alte Menschen sich von Nahestehenden vernachlässigt fühlen oder der Lebenspartner stirbt. Die Angst vor Vereinsamung, zunehmender Hilflosigkeit und damit auch vor drohender Pflegebedürftigkeit nimmt zu. "Andere sagen auch einfach: Ich will niemandem zur Last fallen", sagt der Psychologe Georg Fiedler vom Therapiezentrum für Suizidgefährdete am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

Vorboten ernst nehmen

Senioren, die ihr eigenes Ableben planen, tun dies meist über einen längeren Zeitraum hinweg. Umso tragischer, wenn weder Angehörige noch Ärzte die Suizidgefährdung erkennen. Dabei gebe es deutliche Warnsignale, betont Fiedler: "Wenn ältere Menschen plötzlich Interessen verlieren, sie sich zurückziehen, der Kontakt zu ihnen schwindet oder der Konsum von Suchtmitteln steigt, besteht Anlass zur Sorge." In der Frühphase einer suizidalen Krise äußerten viele Betroffene auch indirekte Suizidgedanken. Formulierungen wie "es hat doch alles keinen Sinn mehr" oder "es wäre besser, wenn es mich nicht mehr gäbe" seien für dieses Stadium charakteristisch. Besonders ernst zu nehmen seien konkret geäußerte Suizidabsichten.

Aber auch das Gegenteil könne ein Vorbote für einen bevorstehenden Suizid sein: Wenn ein Mensch, der zuvor Suizidvorstellungen oder konkrete Suizidvorhaben geäußert hat, plötzlich ungewöhnlich gelöst wirkt, sollte das Umfeld hellhörig werden: Dieses Verhalten könnte darauf hindeuten, dass der Betroffene zu diesem Zeitpunkt bereits den Entschluss gefasst hat, aus dem Leben zu scheiden.

Trotz beunruhigender Zahlen fehlt dem Thema noch immer die nötige Aufmerksamkeit. In den Fokus der Öffentlichkeit gelangen Suizide von Älteren häufig nur, wenn es sich um prominente Fälle handelt: Der Unternehmer Adolf Merckle war 74, Industriellenerbe Gunter Sachs 78 und Metro-Gründer Otto Beisheim 89 Jahre alt, als sie beschlossen, ihr Leben zu beenden. "Suizide von Jüngeren tangieren die Menschen in der Regel stärker. Bei Älteren fehlt häufig das Interesse. Viele denken: Die haben ihr Leben doch gelebt", sagt der Psychologe. Wenn alte Menschen sich selbst töten, berühre das Themen wie körperlichen oder geistigen Verfall, schwere Krankheiten und Einsamkeit im Alter - allesamt Dinge, die von der Gesellschaft gerne verdrängt werden.

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