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Studentisches Sorgentelefon: Bei Anruf Wort

Sie verstaut die Schlüssel in der Handtasche, nimmt die Jacke aus dem Schrank und verabschiedet sich von der Mitbewohnerin. In die Stadt wolle sie noch, sagt die Studentin, eine Freundin treffen. Dort werde sie auch übernachten. Die junge Frau (Name geändert) nimmt das Fahrrad und fährt in die Heidelberger Innenstadt. Doch zu einer Freundin radelt sie auch an diesem Abend nicht. Während des Semesters erzählt sie der Mitbewohnerin zweimal im Monat eine solche Notlüge. Niemand soll erfahren, wohin sie wirklich fährt, auch Freunde nicht.

In Nächten, in denen die Mitbewohnerin denkt, sie sei mit anderen Freunden in den Clubs der Heidelberger Altstadt unterwegs, sitzt die Achtundzwanzigjährige in einem kleinen Büro an der Universität, ausgestattet mit Sofas und Decken, Kühlschrank, Kaffeemaschine - und zwei Telefonen. Davor warten sie und ein Kollege auf Anrufe von Studenten, die von Liebeskummer, Prüfungsangst oder Einsamkeit geplagt werden. Seit vier Jahren arbeitet sie beim Heidelberger Zuhörtelefon „Nightline".

1995 wurde die Hotline als erstes studentisches Sorgentelefon in Deutschland gegründet. Mittlerweile gibt es „Nightlines" in etwa 20 weiteren Universitätsstädten. Die Leitungen sind täglich von 21 bis zwei Uhr geschaltet. Vier bis fünf Anrufe gehen pro Schicht ein. Im Schnitt dauert ein Gespräch 20 bis 45 Minuten. Sie hat aber auch schon mehrstündige Telefonate geführt: „In der Nacht, wenn man allein in der Wohnung sitzt, sind die Probleme oft besonders bedrückend." Gerade dann gebe es nur wenige Anlaufstellen für Hilfesuchende.

Eingestellt wird, wer wirklich helfen will

Diese Lücke wollen die Studentin und ihre etwa 30 Kollegen der „Nightline" schließen. In jedem Semester gebe es viele Interessenten, die mitarbeiten wollen. In Auswahlgesprächen entscheiden die „Nightliner", wer für das Ehrenamt geeignet ist. „Damit wollen wir ausschließen, dass jemand bei uns anfängt, der nur auf den Nachweis seines ehrenamtlichen Engagements für Bewerbungen aus ist." Man merke im Gespräch schnell, wer wirklich helfen wolle. Die Bewerber müssen immatrikuliert, zuverlässig, geduldig und vertrauenswürdig sein - und vor allem zuhören können.

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Ein anderer Student hat das Auswahlverfahren erst kürzlich bestanden. Der Zweiundzwanzigjährige besuchte zunächst ein Wochenendseminar und bereitete sich dort in Rollenspielen auf die Gespräche vor. Zwei Psychologen führten ihn dabei in die „nicht-direktive" Gesprächsführung nach Carl Rogers ein, an der sich die „Nightliner" bei ihren Telefonaten orientieren. Der 1987 verstorbene amerikanische Psychologe hat ein Gesprächsmodell entworfen, das den Gesprächspartner mit Verständnisfragen zur Selbstreflexion animieren soll. Das Ziel: Hilfe zur Selbsthilfe.

„Bei uns sind konkrete Ratschläge und Lösungsvorschläge tabu", sagt die achtundzwanzigjährige „Nightlinerin". Dafür gebe es professionelle Seelsorge-Hotlines mit ausgebildeten Psychologen. „Wir sind keine Therapeuten", ergänzt der Zweiundzwanzigjährige, „und eine Stunde telefonieren reicht nicht, damit man alle Facetten des Problems erfassen und dann fundierte Ratschläge geben kann." Man sei kein Beratungs-, vielmehr ein Zuhörtelefon. „Meistens ist mit aufmerksamem Zuhören, Fragen stellen und Wertschätzen des Gegenübers das allermeiste getan", sagt die Studentin. „Vielen hilft es, sich einfach mal das Problem von der Seele zu reden."

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