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Crystal Meth: Mit Speed in den Blitzkrieg

Die Packungsbeilage empfahl die Einnahme von ein bis zwei Tabletten des Mittels, allerdings „nur von Fall zu Fall!", um, so hieß es, „Schlaflosigkeit zu erhalten". Dennoch flehten Wehrmachtssoldaten in ihrer Feldpost die Verwandten richtiggehend an, ihnen Nachschub des „Wachhaltemittels"an die Front zu schicken.

Der 22 Jahre alte Hein schrieb in einem Brief aus dem besetzten Polen am 9. November 1939 an seine Familie in Köln: „Der Dienst ist stramm, und Ihr müsst verstehen, wenn ich späterhin Euch nur alle zwei bis vier Tage schreibe. Heute schreibe ich hauptsächlich um Pervitin...Euer Hein."

„Hein" wurde später ein weltbekannter Schriftsteller. Der junge Frontsoldat war Heinrich Böll, Literaturnobelpreisträger von 1972. Das Mittel „Pervitin", um das er eindringlich bat: ein jetzt illegales Methamphetamin, chemische Bezeichnung N-Methylamphetamin, firmiert aber heutzutage eher unter dem Namen Crystal Meth, Ice oder Crystal-Speed.

Wunderpille für die Nazis

Die Geschichte der verbotenen Kristalle beginnt als in Tabletten gepresstes weißes Pulver und legales, frei verkäufliches Medikament. 1937 ließ sich das Berliner Pharmaunternehmen Temmler das stimmungsaufhellende und leistungssteigernde Präparat mit dem Handelsnamen „Pervitin" patentieren, ein Jahr später ging es damit auf den Markt.

Für die Nationalsozialisten sei es eine wahre „Wunderpille" gewesen, sagt Gorch Pieken, der wissenschaftliche Direktor des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden. „Pervitin war ideal für den Krieg, weil es eine konzentrationsfördernde, wachhaltende Wirkung auf die Soldaten haben konnte." Die Droge wirkt vor allem im Gehirn: Dort werden Neurotransmitter, vor allem das „Glückshormon" Dopamin, ausgeschüttet. Herzfrequenz und Durchblutung steigen, „Konsumenten durchleben einen ,Flash', sie werden euphorisch und fühlen sich selbstbewusst", beschreibt Pieken die Wirkung.

1939 führte der Oberfeldarzt Otto Ranke Studien zur Wirksamkeit des Aufputschmittels durch, zunächst jedoch an 90 Studenten. „Diese waren trotz Schlafentzugs plötzlich zu erstaunlichen Leistungen fähig", sagt Pieken, der einen Dokumentarfilm über Leistungsdrogen im Dritten Reich produziert hat.

35 Millionen Tabletten wurden während des Frankreichfeldzugs 1940 an die Soldaten der Wehrmacht ausgegeben. Scherzhaft nannten sie das Medikament „Panzerschokolade". Anfangs wurde Pervitin gefeiert, weil es wirksamer sei als Koffein: enthemmend, euphorisierend und scheinbar frei von Nebenwirkungen.

Fatale Folgen für die Soldaten

Doch die vermeintliche „Wunderpille"der Wehrmacht zeitigte schon bald ihre verheerende Langzeitwirkung. Wie Heinrich Böll wurden viele Soldaten süchtig. „Es folgten Schwindel, Psychosen und Depressionen", sagt Pieken. „Einige Soldaten starben an Herzversagen oder erschossen sich im Wahn." Allerdings seien nicht alle Soldaten abhängig geworden oder hätten an diesen Nebenwirkungen gelitten. „Das war natürlich von der Dosis, dem Zeitraum und der körperlichen Konstitution abhängig."

„Reichsgesundheitsführer" Leonardo Conti, zugleich Chef der Reichsärztekammer, schlug dennoch Alarm: „Wer Ermüdung mit Pervitin beseitigen will, der kann sicher sein, dass der Zusammenbruch seiner Leistungsfähigeit eines Tages kommen muss." Er versuchte, den Gebrauch von Pervitin zu reglementieren und einzuschränken. Vergeblich. „Viele süchtige Soldaten beschafften sich, wie Böll, auf Umwegen aus der Heimat Pervitin in großen Mengen, um die Strapazen an der Front zu überstehen", sagt der Militärhistoriker Pieken.

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