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Zurück ins Kinderzimmer - Wie ich mich neu in meine alte Heimat verliebt habe

Als ich mein altes Zimmer beziehe, sehe ich rot. Zu viel rot. An der Tapete, an den Gardinen, auf der Bettwäsche und auf dem Teppich. Alles ist rot. Wenn ich das hier zwei Monate durchziehen will, denke ich mir, muss ich etwas ändern. Ich brauche einen neuen, frischen Start. Alles auf null. Hallo Heimat, ich bin wieder da.

Mehr oder weniger freiwillig verbrachte ich den letzten Sommer in meinem alten Kinderzimmer. Zurück zu den Eltern - nach vier Jahren Eigenständigkeit. Miete sparen und Wohnungssuche waren die ausschlaggebenden Gründe. Doch ein wenig Vorfreude schwang bei diesem Experiment auch mit. Denn nach der Schule habe ich mich nur selten als Wochenend-Touristin blicken lassen. Fünf verschiedene Städte machte ich in der Zwischenzeit zu meinem Zuhause und jede davon liebte ich auf andere Weise. Was bot mir der geregelte Kleinstadtalltag dagegen? Die letzten zwei Monate waren Challenge und Balsam zugleich.

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier

Freitags gibt's Fisch, samstags Pizza und sonntags Braten. Die restlichen vier Tage werden die üblichen Gerichte auf dem Küchentisch meiner Eltern durchvariiert. Quinoa, Avocados und Süßkartoffeln schaffen es hier gar nicht erst bis an die Supermarktkasse. Ein Abendbrot ohne Bier und die Tagesthemen - unvorstellbar. Wie kann man nur jeden Tag das gleiche machen, denke ich vorwurfsvoll. Doch währenddessen merke ich, dass auch ich Teil dieses Spiels bin und in alte Muster verfalle.

Insgeheim freue ich mich nämlich jeden Morgen auf das nächste Kreuzworträtsel der Lokalzeitung. Und jeden Samstagmittag auf die Liga-Live Show im Radio, während es Kaffee und Kuchen gibt. Ich trage wieder meine alten Shirts mit Blümchen-Print, die viel zu lange im Schrank lagen und warte darauf, dass das Mittagessen serviert wird. Instinktiv. Aus Bequemlichkeit, ohne darüber nachzudenken.

Dabei bin das doch gar nicht mehr ich. Mit der Zeit habe ich mir neue Gewohnheiten angeeignet. Ich habe ein verändertes Konsumverhalten, höre neue Musik und kleide und ernähre mich anders. Warum lege ich das plötzlich ab? Wem möchte ich gefallen?

Alarmstufe Schneewittchen

Die kurzfristige Lösung dieser Identitätskrise lautet einmal zu IKEA und zurück. Mein Zimmer wird farblos. Weiße Vorhänge, beigefarbener Teppich, graue Bettdecke. Die Vergangenheit erlischt. Nur eine Zimmerwand bleibt als einziger Farbtupfer rot. Ich schaue mich um und fühle mich wohl. Ja, jetzt können meine alten Freunde vorbeikommen und die neue Julia kennenlernen.

Doch kann ich noch so sehr dagegen ankämpfen, im Endeffekt werde ich wieder „Schneewittchen" genannt. Der Grund liegt auf der Hand - dunkle Haare, blasse Haut, roter Lippenstift: Schneewittchen. Mein Spitzname zu Schulzeiten. Heute nennt mich niemand mehr so. Denn die Signalfarbe auf meinem Mund trage ich schon seit Jahren nicht mehr und verbinde ich mit einem anderen Lebensabschnitt. Genau wie meine alte Zimmereinrichtung.

Zuhause bin und bleibe ich das Schneewittchen, selbst wenn ich mir die Haare blond färben würde. Das war so und wird auch immer so sein. So, wie ich bei meinen Freunden aus meiner Amerika-Zeit Jules bin. Und bei meinen Uni-Mädels Julitschka heiße. Ob ich es will oder nicht.

Zurückkehren braucht Zeit

„Das ist so absurd, dass Du wieder da bist", schreibt mir eine Freundin auf WhatsApp. „Jetzt können wir uns halt echt wieder so oft sehen." Leichter gesagt als getan. Denn der Beginn meiner zwei Monate Zuhause braucht einige Starthilfen.

Anfangs vergessen meine Freunde mir Bescheid zu geben, wenn sie abends spontan etwas unternahmen. Sie gehen auf Partys und denken nicht dran, mich zu fragen, ob ich mitkommen möchte. Dabei meinten sie das nicht böse. Ich bin einfach noch nicht in ihren Köpfen angekommen. Warum auch - in der Vergangenheit war es selbstverständlich gewesen, dass ich nicht mitkommen würde. Ich war ja nie da oder hatte keine Zeit.

„Deine Freunde müssen sich auch erst wieder daran gewöhnen, dass du plötzlich da bist.", beruhigt mich meine Schwester, als mich das Gefühl überkommt, allein in der Pampa festzustecken. Und sie hat Recht: Nach zwei Wochen Einfindungsphase bin ich in den Köpfen wieder allzeit präsent und mein Heimaturlaub wird wie durch Zauberhand zur schönsten Zeit.

Wie früher nur anders

Wir gehen Minigolf spielen, auf Seen paddeln, machen Fahrradtouren, treffen unsere Grundschullehrerin, kaufen eine gemischte Süßigkeiten Tüte beim Kiosk und trinken Capri-Sonne. Mischen Stadtfeste und Schützenumzüge auf, schlagen uns den Bauch mit viel zu vielen Eiskugeln voll, veranstalten an Montagen wieder Serien-Abende und tanzen zusammen. Wie damals, in der zweiten Klasse, als wir uns auf dem Wohnzimmerteppich Choreografien zu Songs von Blue und den No Angels ausdachten. Es scheint fast so, als wollen wir die letzten vier Jahre in zwei Monaten schnellstmöglich nachholen.

Erst jetzt wird mir so richtig bewusst, was der Preis für meinen Freiheitsgeist der letzten Jahre war. Ich hatte mich distanziert. Nicht bewusst, aber unfreiwillig automatisch. Früher war es etwas Besonders, wenn ich mal für ein paar Tage daheim war. Jetzt ist es besonders, dass ich jeden Moment einfach so vorbeikomme. Ich kann wieder für meine Freunde da sein. Nicht nur virtuell, sondern so richtig. Bei Liebeskummer bin ich vor Ort, mache meinen Vanilleeis-Orangensaft Spezialbecher und höre bis 2 Uhr nachts zu, streichle den Kopf. Was ist ein dreistündiges Telefonat dagegen?

Ewige Treue

Fakt ist: das Dorfleben ist klein. Aber klein ist nicht gleich schlecht. Früher assoziierte ich damit Enge. Langeweile. Gossip. Doch es gibt auch so viel Schönes. Gartenpartys beispielsweise führen zur spontanen Familienerweiterung. Irgendwoher kennt man jeden. Die Mütter lagen bei der Geburt zusammen im Krankenhaus. Die Tanten machten eine Ausbildung zusammen. Man selbst spielte zusammen in der Krabbelgruppe. Das Dorfleben macht es einem einfach, sich wieder einzufinden. Es verzeiht einem die Untreue mit einer größeren, spannenderen und viel schöneren Stadt. Es ist der gemeinsame Nenner. Eine Vergangenheit.

Vielleicht gehört zum Heimkehren nicht nur Altes aufleben zu lassen, sondern auch neu kennenzulernen. Sich auf Rollen einzulassen, denen man schon lange entwachsen ist. Denn irgendwie gehören die ja trotzdem zu einem. Wenn einem mal wieder alles zu viel wird, sich daran erinnern zu können, wo man herkommt und sich selbst niemals zu wichtig zu nehmen. Das Band zu meinen Freunden wurde nach nur zwei Monaten stärker und ich spüre das erste Mal in meinem Leben so etwas wie Heimatverbundenheit. Mir ist klar geworden, dass Heimat für mich kein Ort ist. Heimat, das sind die Menschen, von denen ich weiß, dass sie da sein werden. Menschen, die mich akzeptieren - auch wenn ich im Unrecht bin. Die mich nach vier Jahren so selbstverständlich in ihr Leben aufnehmen, wie zu Schulzeiten.

Sowas wie Heimweh

Der Abschied fällt mir umso schwerer. „Wir hatten einen wunderschönen Sommer zusammen", sagt meine beste Freundin, als wir mal wieder vor dem gepackten Bulli meiner Eltern stehen. Vor allen Umzügen kommt sie rüber und verabschiedet sich. Es ist unser Ritual. Jedes Mal ist es seltsam, aber dieses Mal besonders. Denn sie hat Recht: wir brauchten diesen Sommer.

Ich gehe mit einem Versprechen fort. Dem Wort, dass ich mich in Zukunft öfter blicken lasse. Und dieses Mal meine ich es wirklich. Denn ich vermisse alles jetzt schon.

Heimat, das sind die Menschen, von denen ich weiß, dass sie da sein werden.
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