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Grenzen der Belastbarkeit: Ein Meeting mit mir selbst - Weltethos Institut Tübingen

In diesem Blog-Beitrag hält Dr. Julia Schönborn ein flammendes Plädoyer für das Ende des Raubbaus an den eigenen Grenzen. In ihrem Selbstgespräch flicht sie in eindrucksvoller Argumentation und Sprache psychische, berufliche, gesellschaftliche und auch planetarische Belastungsgrenzen ineinander - und lädt ein zur Selbstreflexion darüber, was wir individuell und als Gesellschaft brauchen, um den anstehenden Krisen entgegenzustehen.

Check-In: Wie bin ich heute hier?

Wir haben September. Ein zweiter Covid-19 Sommer liegt hinter uns, und es soll allen Prognosen nach der letzte sein. Die Pandemie ist nicht vorüber, schon gar nicht wenn wir das Geschehen global betrachten. Dennoch: Die Aussichten werden besser, die Impfstoffe möglicherweise schon sehr bald auch für Kinder unter 12 zugelassen, und neben das alles beherrschende Thema treten langsam, aber sicher andere Nachrichten. Auch wenn diese aktuell - während ich schreibe nähert sich die Bundestagswahl - wenig erbaulich sind. Zumindest ich finde den Wahlkampf so unerträglich wie noch nie, aber das hat möglicherweise auch mit dem Thema dieses Meetings zu tun.

Stand-Up: Warum dieses Meeting?

Unser Jahresthema am Weltethos-Institut lautet „Grenzen der Belastbarkeit". Wir haben uns die Frage gestellt, wie wir einen besseren Umgang mit den planetarischen, den gesellschaftlichen, den beruflichen, den psychischen Belastungsgrenzen finden. Was wir dazulernen müssen, um auch unter hohem Druck menschlich miteinander umzugehen. Und wie wir zusammenhalten können, über alle Grenzen hinweg. Nun bricht das vierte Quartal dieses Jahres an, und ich muss zugeben: Ich bin nicht einen Schritt weiter gekommen mit der Beantwortung dieser Fragen. Nicht individuell, nicht beruflich, nicht gesellschaftlich, und natürlich schon gar nicht global. Ich fühle mich schlecht. Das wird in meinen KPIs ganz mies aussehen.

Dabei hatte das Jahr als Testzeitraum für die Grenzen der Belastbarkeit vielversprechend angefangen. Immerhin befinden wir uns alle gemeinsam in der wohl größten Krisenstudie der Geschichte der Menschheit. Haben wir früher Blockbuster gebraucht, um uns vor Augen zu führen, wie wir in einem Katastrophenfall als Gesellschaft reagieren würden, reicht heute der Blick in die sozialen Medien oder in die Zeitung. Da ist so unglaublich viel Raum zum Lernen! So viel Anlass zu Gesprächen, zu Reflexionen, so viele Probleme, die schnelle und innovative Lösungen brauchten. Wie konnte ich das nicht für mich nutzbar machen?

Dieses Meeting ist eine Intervention.

Review: Was ist passiert und wo stehen wir gerade?

Mit Aristoteles gesprochen sind wir in der Retardation oder der Verlangsamung. Das ist die vorletzte Phase im klassischen Drama, bevor es zur Katastrophe, aber auch zur Katharsis, zur Reinigung, kommt. Im Blockbuster „Armageddon" klettern die Astronauten in dieser Phase quälend langsam auf dem Kometen herum, der auf die Erde zu rast. Der richtige Zeitpunkt also, um kurz auf die Toilette zu verschwinden oder sich noch einmal in die Popcornschlange des Kinos zu stellen. In dem, was wir gerne als die „echte Welt" bezeichnen, bin ich mit den Kindern nach Schweden gefahren und habe Urlaub von allem gemacht. Sogar von den Corona-Maßnahmen, denn die Schweden verfolgen einen liberalen Kurs. Für uns war das wie ein langes Luft Holen vor der Rückkehr in den Pandemie-Alltag. Und dieser hat es nach wie vor in sich. Digitale Meetings wechseln sich mit Präsenzterminen ab. Schulmateriallisten wollen abgearbeitet, kaputte Abflussrohre getauscht, kleinere und größere Alltagsprobleme wollen bewältigt werden. Der Garten ist nach dreieinhalb Wochen Urlaub eine Katastrophe. Und längst gibt es keine Grenzen mehr zwischen meinen Projekten oder zwischen Arbeit und Freizeit. Alles ist ineinander geflossen, alles ist ein einziger Matsch aus nie endenden To-Do-Listen. Auf die ich seufzend noch einen neuen Punkt schreibe: „Masken kaufen". Meine Meetings nehme ich zum Teil im Stehen an oder mache zwischendurch Yoga-Übungen. Das sieht blöd aus, ist aber an schlechten Tagen die einzige Bewegung, die ich bekomme. Im Autopilot verhalte ich mich darüber hinaus auch den planetarischen Ressourcen gegenüber wie eine Axt im Wald. Der Sohn braucht Turnschläppchen: Die gibt es zum Glück auch bei amazon. Der vegane Lieferdienst wird von den Kindern gemobbt: Wir lassen uns Burger kommen. Zugfahrten mit Maske sind anstrengend: Wir fahren mit dem Diesel. Und noch ist kein Licht am Horizont zu sehen.

Interpretation: Warum wurde das Ziel verfehlt?

Beim Review wird klar: Die Grenzen meiner beruflichen wie psychischen Belastbarkeit sind längst erreicht. Ich konnte monatelang dabei zusehen, wie meine Kraft und Energie immer weiter abnahmen. Damit erklärt sich auch die Gedankenlosigkeit, zum Beispiel bei den oben genannten Entscheidungen. Jedes Nachdenken und damit jedes bewusste Entscheiden verbraucht Energie. Im Pandemie-Alltag habe ich in den Stromsparmodus geschaltet - Prozesse, die nicht unbedingt erforderlich waren, bekamen keine Energie zugeteilt. Die Krise hat die Reflexion gefressen.

Ein Zwischenfazit könnte sein: Wer in der Krise pausenlos agieren muss, hat nur sehr begrenzte Mittel, um parallel zu hinterfragen, zu analysieren und abzuwägen. An die Stelle des gelegentlichen Innehaltens, vielleicht sogar der Gegenbewegung, tritt ein sturer Aktivismus. Wollen wir reflektieren, bewusst entscheiden, Antworten finden, muss zunächst der Raum geschaffen werden, um die Belastungsgrenzen nicht zu erreichen. Nur dann stehen ausreichend Ressourcen zur Verfügung. Eine mögliche Antwort auf die Frage, was wir dazulernen müssen, um auch unter dem erlebten hohen Druck menschlich miteinander umzugehen, ist also: Wir müssen lernen, wie wir diesen Raum schaffen können. Individuell und als Gesellschaft.

Austausch: Wie geht es den anderen?

Lässt sich meine Selbstbetrachtung überhaupt verallgemeinern? Wie geht es den anderen Menschen in meinem Umfeld, meinem Land, dem Rest der Welt? Vielen meiner Bekannten zumindest geht es ähnlich wie mir: Sie versuchen, alles irgendwie zu schaffen. Sie sind erschöpft und machen dennoch immer weiter. Sie sagen private Termine ab, lassen den Sport sausen oder geben ein geliebtes Hobby auf, um mehr Zeit für die vielen anstehenden Aufgaben zu haben. Sie sparen also am falschen Ende. Die meisten von ihnen stehen unter einem enormen Druck. Manche werden krank, einige sogar schwer.

Dann gibt es noch eine kleinere Gruppe: Der Nachbar, der seit Monaten in Kurzarbeit ist und seinen Kaffee vors Haus mitnimmt, um die Sonne auszunutzen. Der Bruder, der keinen Außendienst mehr hat und jetzt fabelhaft kochen kann, viel Sport treibt und sich ein neues Computerprogramm selbst beigebracht hat. Der Bekannte, der während der Pandemie auf Arbeitssuche gehen musste und nun mit seinem neuen Job auch sein Leben verändert. Sie erleben eine andere Form von Druck und entwickeln auch andere Bewältigungsmechanismen. Sind sie an ihre Grenzen geraten oder darüber hinaus gegangen? Die Zeit, sie zu hören, die Zeit, mit mehr Menschen zu reden, fehlt. Der Blick ist auf die weltweiten Zahlen und die globalen Krisen gerichtet, und gleichzeitig scheint er auf die eigenen vier Wände verengt. Die letzte intakte Grenze wird verteidigt: Innen, da bin ich, sind meine Liebsten. Außen, das ist alles andere.

Ausblick: Was müssen wir tun?

Obwohl ich erst an der Oberfläche unserer Fragen gekratzt habe, wage ich einen Ausblick auf die letzte: „Wie können wir zusammenhalten, über alle Grenzen hinweg?" Meine aktuelle Antwort ist ernüchternd. Denn kann ich den Blick mitfühlend und bereit zur Aktion ins Außen richten, wenn ich im Inneren mit den permanenten Entgrenzungen meines Alltags kämpfe? Kann ich mich durchlässig zeigen für die Nöte anderer, wenn ich merke, dass alle Ressourcen schon gebunden sind? Auch wenn es zum Glück wunderbare Gegenbeispiele voller Solidarität, Unterstützung und Liebe gibt: Es ist schwierig, für einige Menschen sogar unmöglich, sich gerade jetzt um Zusammenhalt und um Dialog zu bemühen. Das muss man verstehen: Sind unsere Grenzen verletzt, reagieren wir irgendwann mit Abgrenzung.

Dabei neigt die Entgrenzung in der Krise offenbar dazu, sich über die Zeit zu verstärken. Haben wir im ersten Lockdown vielleicht noch bis zum Kaffee gewartet, um die Mails zu checken, begleiten uns die verschiedenen Messenger, auf denen jemand um 23:30 Uhr noch eine dringende Nachricht geschrieben hat, heute schon unter die Dusche. Sie können das in einer kleinen Selbstbeobachtung für sich nachvollziehen. Es ist ein bisschen so, als hätte man der Krise in einem lange zurückliegenden Moment der Nachlässigkeit den Griff in den Süßigkeitenschrank erlaubt. Und hätte heute Mühe damit, wenigstens ein Obst oder Gemüse pro Tag durchzusetzen.

Next Steps: Was mache ich als nächstes?

Mir wird klar: So geht es nicht weiter. Der Raubbau an uns selbst im Krisenmodus wird nachhaltig verhindern, dass wir uns mit den Grenzen der eigenen, der gesellschaftlichen, der planetarischen Belastbarkeit auseinandersetzen. Was entgrenzt wurde, muss in seine Grenzen zurückgeführt werden. Was außer Kraft gesetzt wurde, damit wir die Pandemie bewältigen, muss - mit allem Positiven, das wir lernten und beibehalten wollen - wieder in Kraft treten. Nur wenn wir den Raum, den wir eingebüßt haben, erneut schaffen, wird der verengte Blick wieder weit. Können wieder mehr Gespräche stattfinden, wird gesellschaftlicher Zusammenhalt wieder erfahrbarer. Und wir beginnen wieder, bewusste Entscheidungen zu treffen, statt uns im Autopilot zu bewegen und das zu machen, was einfach und naheliegend ist.

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