Der Weihnachtsstollen hat im Erzgebirge eine besondere Tradition. In vielen Familien gibt es Rezepte, die von der Groß- oder Urgroßmutter stammen. Gebacken werden sie in der sogenannten Hausbäckerei. Einer, der diesen Service noch anbietet, ist Bäckermeister Falk Schellenberger aus Aue.
Sein Großvater hat die Bäckerei Schellenberger 1927 in Aue eröffnet und schon damals kamen in der Woche nach Totensonntag die Hausbäcker zu ihm in die Backstube. Erst mit Pferdeschlitten, später zogen sie die Schlitten selbst, hintendran Waschkörbe voll Zucker, Rosinen, Mandeln, Zitronat und ausgelassenem Fett. Das genaue Verhältnis der Zutaten war das Geheimnis, das den eigenen Stollen anders machte als den der Nachbarn. Würziger, leichter oder fetter, fruchtiger oder weniger fruchtig. Fruchtig hatte zu DDR-Zeiten etwas mit Westkontakten zu tun. "Die konnte man herausschmecken", sagt Falk Schellenberger. Denn Zitronat war rar. Wer es hatte, hatte es von drüben. Hüben musste man mit Kandinat vorlieb nehmen, einem Ersatzstoff aus kandierten grünen Tomaten. Die Farbe war ähnlich, der Geschmack nicht.
Heute kommen die Hausbäcker mit dem Auto vorgefahren. Halb acht Uhr morgens stehen sie in der warmen Backstube, mit Plastiktüten und Jutetaschen in den Händen, Mützen noch auf dem Kopf. Drei Frauen, zwei Männer, sechzig aufwärts. Falk Schellenberger kennt sie gut, außer einem Ehepaar aus Schneeberg, das zum ersten Mal hier ist. Christa Flemmig ist seit 30 Jahren dabei, Irmgard Haupt und ihr Mann Lothar haben vor knapp 60 Jahren als Hausbäcker noch bei Schellenbergers Großvater angefangen. Jetzt sind sie 80. "Schelli" sagen sie zum Enkel. Sie kommen aus der Nachbarschaft, sind auf dem Eichert geboren.
Falk Schellenberger winkt die in einer Reihe wartenden Hausbäcker einzeln nach vorn an die Teigknetmaschine. Viel Platz ist nicht in der Backstube, es scheint sich aber auch keiner setzen zu wollen. Wer dran ist, hält dem Bäcker seine Tüten entgegen, aus denen er gemusterte Töpfe auf die Arbeitsplatte hebt. Die Inhalte werden genau geprüft und diskutiert. Zu wenig Zucker? Zu viel Fett? Gebacken wird nur, was der Bäcker freigibt. Es soll ja keine Enttäuschung geben. Nach und nach landen rumgetränkte Rosinen, Zucker, Mandeln, Butter und Zitronat im Kneter. Der Hefeteig ist schon angesetzt. Zehn Pfund Mehl ergeben 30 Pfund Stollen. Aufgeteilt in Portionen, wie sie die Hausbäcker wünschen: Zwei-, Drei- und Vierpfünder. Alles mit der Hand geformt. Nach Tradition.
Tradition haben auch die Stollenzeichen. Sie markieren den Eigentümer, der am Ende kaum zu unterscheidenden Teigklumpen, bevor sie in den Ofen kommen. Jede Familie hat ihr eigenes Zeichen: ein flacher Metallstift, in den der Name eingraviert ist. "EVP" steht beim Ehepaar aus Schneeberg. Nein, nicht ihre Initialen. "Das ist der Einzelhandelsverbrauchspreis der DDR, den kennen Sie wohl nicht mehr?"
Warum sie ihren Stollen nicht vorn an der Theke im Laden kaufen? Christa Flemmig schüttelt den Kopf. Ohne den Geruch von warmem Stollen in der Wohnung kommt sie nicht in Weihnachtsstimmung. Irmgard Lothar bäckt seit 60 Jahren das Rezept ihrer Schwiegermutter. Es ist ihr heilig. Sie hat es bisher nicht mal ihrer Tochter verraten. Noch nicht, sagt sie und lacht.
Die Kinder backen nicht selbst, sie lassen sich den Stollen lieber schicken. Die Hausbäcker werden immer weniger. "Früher kamen die Leute jeden Montag vor Weihnachten," sagt Falk Schellenberger. "Sie standen schon ab 7 Uhr Schlange. Wir haben es hier im Laden kaum geschafft, unsere eigenen Stollen zu backen." Heute sind es nicht mehr 20 Hausbäcker pro Tag, sondern insgesamt. Dafür ist das Stollengeschäft enorm gewachsen. Einen Verkaufs-Boom gab es erstmals im Wendejahr. Damals fiel die Hausbäckerei aus. "Niemand hatte die Nerven zu backen. Aber alle haben gekauft, um die Stollen als Geschenk mit rüber zu nehmen."
Die Hausbäckerei ist danach nie wieder richtig geworden. Der Stollenverkauf dagegen brummt. Ab diesem Jahr verkauft die Bäckerei Schellenberger auch online. Sohn Alexander, genauer gesagt. Er hat vor ein paar Jahren das Geschäft vom Vater übernommen. Nur die Hausbäckerei nicht. Die mache er weiter, solange die Leute noch kommen, sagt Falk Schellenberger.
Nach einer Stunde im Ofen sind die Stollen fertig. Für einen Moment herrscht Aufregung: Wenn die Stollen vom Backblech heruntergenommen werden, darf kein Laib zerbrechen. Sonst stirbt jemand, heißt es. Ist der Stollen sicher zu Hause angelangt, wird er kühl gelagert. In einem Koffer auf dem Balkon von Christa Flemmig im 6. Stock. Auf dem Schlafzimmerschrank von Familie Haupt. Am besten außer Reichweite, denn der Stollen muss noch gut durchziehen. Der Tradition nach darf er sogar erst am 25. Dezember angeschnitten werden. Daran hält sich außer Lothar Haupt niemand mehr. Bei ihm reicht der Stollen dafür bis Ostern.