Stuttgart - Ob die Patientin irgendetwas von dem mitbekommt, was um sie herum passiert, weiß Julia Röhm nicht. Trotzdem spricht die Intensivpflegerin mit der Frau, die da im Bett vor ihr liegt. „Das wird jetzt kurz unangenehm", kündigt sie an, bevor sie der Patientin an der leicht heraushängenden Zunge vorbei einen Schlauch in den Mund schiebt und den Speichel absaugt. Die Patientin zeigt keinerlei Regung. Sie ist sediert, die Funktionen ihres zentralen Nervensystems sind also durch Medikamente stillgelegt. Um sie herum stehen mehrere Monitore und Maschinen, ein Haufen bunter Schläuche führt in ihren Körper. Ernährt wird sie über eine Magensonde. Und weil sie zuletzt künstliche Hilfe beim Atmen brauchte, wurde in ihre Luftröhre ein Schnitt gemacht.
Diese Frau, die da im Bett auf der Intensivstation des Robert-Bosch-Krankenhauses (RBK) in Stuttgart liegt, hat sich mit Corona infiziert. Wie alt sie ist, ob sie Vorerkrankungen hat oder wie sie aussieht, bleibt an dieser Stelle bewusst unbeantwortet. Es sollen keine Rückschlüsse auf die Patientin möglich sein, darauf legt das Krankenhaus Wert.
Die Pflegerin behandelt alle mit Würde
Bevor die doppelt behandschuhten Hände von Julia Röhm die Patientin berühren oder die Pflegerin an einer Maschine eine Einstellung verändert, warnt sie die Patientin vor. Sie begrüßt sie auch und verabschiedet sich. „Ich kann nicht einfach stillschweigend meine Arbeit machen.“
Und nur weil jemand aus ihrer Sicht eine „falsche Entscheidung“ getroffen habe, liege immer noch ein Mensch vor ihr, den sie mit Würde behandle, sagt die 26-jährige Pflegerin. Mit „falscher Entscheidung“ meint sie: 90 Prozent der Menschen, die mit Corona auf der Intensivstation liegen, sind ungeimpft. 40 Prozent der Corona-Infizierten sterben auf der Intensivstation des RBK. Seit Beginn der Pandemie sind in Deutschland nun knapp 100 000 mit Corona verstorben.
Hintern abwischen, mit dem Arzt flirten: Das ist das Klischee
„Ich könnte das nicht.“ Das ist der häufigste Satz, der kommt, wenn Julia Röhm anderen erzählt, wo sie arbeitet. Dafür könne sie nicht den ganzen Tag in einem Büro sitzen, entgegnet sie dann. Abwertende Reaktionen für ihren Job erhalte sie selten. Nur unter dem Begriff „Krankenschwester“ würden sich manche noch immer vorstellen, dass man nur Betten abziehe, Hintern abwische und dem Oberarzt schöne Augen mache. Sie präferiert daher „Pflegefachkraft“ oder „Gesundheits- und Krankenpflegerin“.
Eigentlich wollte Julia Röhm Ärztin werden. Doch ihr Abischnitt reichte nicht ganz fürs Medizinstudium. Also absolvierte sie eine Ausbildung im Kreiskrankenhaus in Herrenberg (Kreis Böblingen), nahe dem Dorf, wo sie aufgewachsen ist. Nach der Ausbildung fing sie auf der Intensivstation der Herzchirurgie im RBK an. Im Dezember 2020, mitten in der zweiten Welle, wechselte sie auf die internistisch-onkologische Intensivstation. Zurzeit liegt dort kein einziger Krebspatient. Nur Corona-Infizierte.
Julia Röhm kam damals voller Motivation. „Wenn ich heute neue Kollegen beobachte, weiß ich, dass aus dieser Motivation bald Frust wird.“ Die Pandemie laugt die Pflegekräfte aus. Eigentlich arbeitet Julia Röhm 90 Prozent, etwa 35 Wochenstunden. Wegen Corona hat sie aber schon viele Überstunden gemacht. „Wenn etwas passiert, während die Schicht gerade endet, bleibt man noch ein, zwei Stunden.“ Man hilft sich.
Unter der Schutzmontur wird es heiß
Bevor Julia Röhm zu einem Covid-Patienten ins Zimmer geht, muss sie eine Schleuse passieren. Vor der Tür mit der Aufschrift „Quarantänebereich“ und „Kohortenisolation“ zieht sich die 26-Jährige um: eine FFP3-Maske statt der FFP2-Maske, ein Schutzschild, eine Kopfhaube, einen Schutzkittel, zwei Paar Handschuhe. In dieser Montur wird es schnell heiß. Schon nach wenigen Minuten kommt sie ins Schwitzen.
Die junge Frau zeigt die Station und den freien Blick auf die Weinberge. Meist ist der Ausblick aber vollkommen egal. Auf der Intensivstation kämpft man ums Überleben. „Zwar wissen wir, dass die Menschen nie mehr dieselben sind wie davor, aber wir haben die Möglichkeit, ihnen einen milderen Verlauf zu ermöglichen“, erläutert Julia Röhm die Erfüllung an ihrem Job. „Es ist ein gutes Gefühl, wenn ein Patient ohne Schutzkleidung unsere Station verlassen kann.“
Sie erinnert sich noch an den Tag , als sie zum ersten Mal von Corona hörte. Es war im Januar 2020, sie saß im Auto, auf dem Weg zur Arbeit. Im Radio hörte sie von einem neuartigen Virus aus China. „Ich dachte mir: Das ist weit weg, das kriegen die in China schon unter Kontrolle.“ Anfangs witzelte sie noch mit ihren Kollegen. Dann kamen die ersten infizierten Patienten, kurz darauf folgte der erste Lockdown. Röhms Vater, der auch Intensivpfleger ist, infizierte sich direkt in der ersten Welle – und steckte die Mutter sowie die beiden Geschwister an. Julia Röhm ist bis jetzt verschont geblieben.
Kollegen kündigen, weil sie es nicht mehr schaffen
Maximal 13 beatmete Covid-Patienten können Julia Röhm und ihre Kolleginnen versorgen. Zwar hätten sie noch ein paar Intensivbetten mehr, doch es fehlt an Personal. „Wir haben viele Zu- und Abgänge. Kollegen haben gekündigt, weil sie nicht mehr konnten.“ Nicht jeder ist in der Lage, acht Stunden am Stück in Schutzmontur zu verbringen und an schlechten Tagen zwischendurch nur mal für fünf Minuten auf die Toilette gehen zu können und etwas zu trinken.
Zurzeit wird viel über eine Impfpflicht für Pflegekräfte diskutiert – während genau diese vor allem wegen der Ungeimpften unter so einer Dauerbelastung stehen. „Ich bin ein Mensch, der selten wütend wird.“ Aber frustriert, ja, das sei sie. „Wir geben hier unser Bestes. Und unsere Arbeit wird mit Füßen getreten.“ Sie verstehe nicht, warum so viele Menschen auf fragwürdige Dinge hörten, die sie in sozialen Netzwerken mitbekämen.
Privat kennt Julia Röhm keinen Impfgegner. Einige Verwandten hätten sie anfangs zur Impfung befragt. „Ich meinte dann: Ich würde es machen, weil ich sehe, dass es etwas bringt.“ Wenn sich vor Impfbussen Schlangen bilden – wie so oft zurzeit –, freut sie sich.
Gespräche mit schwangerer Freundin zum Abschalten
Auf dem Boden vor der Tür zum Quarantänebereich hat sich inzwischen eine Pfütze aus Desinfektionsmittel gebildet. Während dem Ausziehen der Schutzmontur müssen sich die Pflegekräfte insgesamt fünfmal die Hände beziehungsweise die Handschuhe desinfizieren. Die FFP3-Maske, die Handschuhe, der Kittel und die Haube landen im Müll, das Schutzschild wird desinfiziert.
Für Julia Röhm nähert sich der Feierabend. Wenn sie zu Hause ankommt, wird sie Musik hören. Das hilft ihr, um abzuschalten. Außerdem schaut sie gerne Netflix oder liest. Zurzeit steht sie auf Psychothriller, „da bin ich kurz weg aus der realen Welt“.
In einem Jahr wäre Julia Röhm gerne in den USA
Und wie schaut die Intensivpflegerin in diesen Winter – wo schon Mitte November die Alarmstufe ausgerufen wurde? Bei der Antwort stockt Julia Röhm. „Zwiegespalten“, sagt sie. Natürlich habe sie Hoffnung, „dass etwas passiert und sich etwas ändert“. Die andere Möglichkeit will sie nicht durchdenken. „Je mehr man es sich ausmalt, desto schlimmer wird es.“ Sie gehe Tag für Tag mit der jeweiligen neuen Situation um.
Einen Wunsch hat Julia Röhm: dass sie im November 2022 bei der Hochzeit ihrer ehemaligen Gastschwester aus der Schulzeit in den USA dabei sein kann. Und sie hofft, dass sie noch mehr Situationen wie kürzlich erlebt. Da sagte ein Covid-Patient, der von der Intensiv auf eine andere Station verlegt wurde, er hätte es sich überlegt: Er würde sich nun gegen Corona impfen lassen.
Und wie steht es um die Frau in dem Einzelzimmer? Immerhin, sie atmet wieder zu 100 Prozent selbst, das Beatmungsgerät ist nur noch das Back-up. Man wird sehen.
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