Stuttgart - Ist das Wetter gut, verwandeln sich beliebte Treffpunkte wie der Marienplatz oder der Feuersee in Stuttgart zu Outdoor-Clubs und Partymeilen. Die Interessen von Anwohnern und Jugendlichen führen zu Konflikten.
Herr Dinkel, Sie wohnen direkt am Feuersee. Wie haben Sie die vergangenen Nächte geschlafen?
Christoph Dinkel Erfreulich gut. Die Maßnahmen der Stadt wirken. An den Wochenenden ist nun ein Sicherheitsdienst da, der macht gute Arbeit. So wie es jetzt ist, darf es bleiben.
Wie war es davor?
Dinkel Das eine Problem ist die Verschmutzung. Nachts laufen hier Ratten rum, die die Reste vom mitgebrachten Essen fressen. Ganz vieles landet auch im See. Und viele Leute machen ihr Geschäft hinter die Büsche oder in Eingangsbereiche der Grundstücke. Morgens ist alles vollgekotet. Das andere Problem ist der große Lärm. Das liegt an den großen Musikboxen. Das ist wie bei einer Rave-Party. Ein Anwohner hat gemessen: Die Lautstärke mitten in der Nacht war so, als wenn tagsüber alle Glocken läuten. Die Party ging in der Regel bis morgens um 5 Uhr. Meine Frau und ich haben gute Fenster im Pfarrhaus, die hatten wir zu, wir hatten Ohrstöpsel drin – und trotzdem haben wir noch alles gehört. Da ist es mit Schlaf nicht weit her. Einmal verkraftet man das, aber nicht Nacht für Nacht, Wochenende für Wochenende.
Frau Östreicher, waren Sie auch auf einer dieser Partys?
Nina Östreicher Freunde von mir waren dort, ich selbst nicht. Ich bin eher in Bars unterwegs. Früher saß ich oft am Neuen Schloss, aber seit der Krawallnacht fühle ich mich da nicht mehr sicher. Allerdings war ich am Wochenende bei einem Rundgang mit dem Oberbürgermeister Frank Nopper am Feuersee und am Marienplatz.
In unserer Zeitung war die Rede von rund 400 Jugendlichen am Marienplatz, die nach Mitternacht teilweise weitergezogen sind, etwa an den Erwin-Schoettle-Platz . . .
Östreicher Darum finde ich, dass das Aufenthaltsverbot keine langfristige Lösung sein kann. Man kann nicht nur verbieten. Sonst kommt es anderswo zur selben Situation. Am Neuen Schloss war es am Wochenende so voll, dass man nicht mehr durch die Menschenmenge durchkam.
Was schlagen Sie stattdessen vor?
Östreicher Man müsste Raum für Jugendliche schaffen, wo es keine Anwohner gibt. Zum Beispiel findet auf dem Cannstatter Wasen zurzeit nichts statt, der Platz wäre leer. Man müsste die Plätze etwas vorbereiten, also mehr Mülltonnen und Sitzgelegenheiten schaffen.
Dinkel In Stuttgart gibt es gar nicht so viele öffentliche Plätze, an denen niemand wohnt. Selbst am Wasen gibt es Anwohner, die mit sechs Wochen Frühlingsfest und Volksfest schon ziemlich belastet sind.
Östreicher Junge Leute treffen sich auch deshalb draußen, weil die Clubs immer noch nicht öffnen dürfen. Das ist schwer nachvollziehbar, wenn anderswo Veranstaltungen mit mehreren Hundert Menschen stattfinden. Nun hat sich ein Teil der Clubszene eben nach draußen verlagert.
Wäre das Aufenthaltsverbot ab Mitternacht eine Dauerlösung?
Dinkel Für mich wäre es auch okay, wenn die vielen Leute kommen würden, aber ohne ihre Musikboxen. Dann müsste man den Platz auch nicht räumen. Aber die Polizei sagt, dass sie die Situation anders nicht in den Griff bekommt.
Östreicher Könnte das Sicherheitspersonal nicht die wegschicken, die mit großen Musikboxen kommen? Die ganz großen Musikboxen passen ja in keine Tasche, die fallen auf.
Dinkel Laut Polizei fliegen Flaschen, wenn die Beamten versuchen, diese großen Boxen zu konfiszieren. Aber mit dem Sicherheitsdienst momentan funktioniert das gut; die sprechen die Leute rechtzeitig an, bevor sie völlig betrunken sind. Aber nach Mitternacht steigt der Alkoholpegel so stark an. Dann wird es gefährlich.
So richtig passt ein Aufenthaltsverbot nicht zu einer Großstadt. Es wirkt beinahe etwas provinziell . . .
Dinkel Es gibt Schutzrechte der Anwohner. Bei der Feinstaubbelastung war es genauso: Die EU hat dafür gesorgt, dass die Bewohner Stuttgarts vor giftiger Luft geschützt worden sind. Starker Lärm in der Nacht ist ebenfalls gesundheitsschädigend. Gesundheit ist nicht verhandelbar.
Östreicher Das soll keinesfalls unverschämt klingen, doch: Wenn man mitten in die Innenstadt zieht, muss man damit rechnen, dass es manchmal etwas lauter wird. Natürlich gibt es aber Grenzen!
Wie könnte man die Verschmutzung in den Griff bekommen? Am Feuersee gibt es ja zum Beispiel ein Toilettenhäuschen . . .
Dinkel Das ist zu wenig. Wenn Sie am anderen Ende des Feuersees sitzen und einigermaßen abgefüllt sind, gehen Sie nicht mehr 100 Meter.
Östreicher Und am Marienplatz gibt es nur diese Einzeltoilette. Das wird schnell eklig.
Dinkel Frau Östreicher, darf ich Sie etwas fragen? Was hat es mit den zertrümmerten Flaschen auf sich, steckt da ein politisches Signal dahinter?
Östreicher Ich will keine Stereotype aufmachen, aber oft sind das wohl Jungs, die etwas offensiver werden können, wenn sie Alkohol trinken. Eine politische Motivation dahinter kann ich mir nicht vorstellen. Manchmal sind es auch Versehen. Man könnte vielleicht auch Glasflaschen an diesen Plätzen generell verbieten.
Dinkel Ein Problem ist auch, dass man am Feuersee und Marienplatz so leicht an Alkohol kommt. Vor ein paar Jahren gab es in Baden-Württemberg ab 22 Uhr ein Alkoholverkaufsverbot. Seitdem das aufgehoben wurde, hat das laut Polizei die Lage verschärft.
Östreicher Ich fände es nicht gut, wenn dieses Alkoholverkaufsverbot wieder eingeführt wird. Aber ich kann die Wirkung schlecht einschätzen, da ich noch sehr jung war, als das galt.
Dinkel Die Lage für uns Anwohner wird auch dadurch zugespitzt, dass es sich bei den Feiernden nicht nur um Stuttgarter Jugendliche handelt, sondern sich junge Leute aus der ganzen Metropolregion hier versammeln. Es kommen welche aus Böblingen, Göppingen, Schorndorf oder von noch weiter weg, die durch die S-Bahn ganz schnell am Feuersee sind.
Östreicher Vielleicht müssten die Bürgermeister von Schorndorf und Co. ihre öffentlichen Plätze etwas jugendfreundlicher gestalten, dann würde sich das Problem in Stuttgart verkleinern. (Lacht) Im Übrigen handelt es sich bei den Feiernden nicht nur um Jugendliche, sondern auch um Studierende.
Haben die coronabedingten Einschränkungen junge Menschen härter getroffen als Ältere?
Dinkel Auch für mich war durch Corona vieles nicht mehr möglich. Wir Pfarrer konnten keine Besuche machen, die Leute konnten sich nicht bei uns treffen. Privat gehe ich normalerweise gerne aus. Aber natürlich ist das Jammern auf hohem Niveau. Wir hatten ein Netflix-Abo, haben viel gekocht – und jetzt am Wochenende war ich schon wieder im Theater und in der Wilhelma.
Östreicher Mir ist bewusst, dass Krieg und Flucht schlimmer sind als unsere Einschränkungen. Aber der Ausgleich hat komplett gefehlt. Und schlimm war, dass alle Schulausflüge ins Wasser gefallen sind: Austausch nach Budapest, Fahrten nach Berlin und Rom. Unsere Abi-Fahrt nach Spanien fällt auch ins Wasser. Ich habe das Gefühl, dass die letzten anderthalb Jahre meiner Jugend einfach an mir vorbeigezogen sind.
Was wünschen Sie beide sich für die kommenden Monate?
Dinkel Dass die Leichtigkeit zurückkehrt. Kirche ist ein sozialer Ort, wo Begegnungen stattfinden sollen. Das ist nach wie vor nicht richtig möglich.
Östreicher Für die Schülerinnen und Schüler wünsche ich mir, dass es ab Herbst ordentliche Belüftungssysteme in den Schulen gibt, so dass sie nicht mehr bei minus fünf Grad am geöffneten Fenster Klausuren schreiben müssen. Privat wünsche ich mir mehr Planungssicherheit.
Dinkel Ich bin da mal vorsichtig optimistisch. Ich habe gerade Karten für zwei Opern im Herbst gekauft. Das wird schon klappen.
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