Sonntags wird gedreht. Während die meisten in seinem Alter am Wochenende ausschlafen, mit Freunden abhängen oder Fußball spielen, setzt sich der Schüler Vincent Boger vor seinen Schrank als neutralen Hintergrund, baut sein Smartphone und Stativ auf, drückt auf Videoaufnahme und beginnt vor der Kamera zu erklären, was das Fürstentum Andorra ausmacht, wie gut dieses oder jenes Buch ist oder ob Hitler auch etwas Gutes für die Deutschen getan habe. Mit seinen nicht einmal 15 Jahren erklärt der Neuntklässler, der das Lise-Meitner-Gymnasium in Remseck am Neckar besucht, anderen Menschen die Welt. Das macht er nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern auf der Videoplattform Youtube. Dort hat der hochgewachsene Jugendliche einen Kanal mit dem Namen Autside; die falsche Schreibweise des englischen Worts für „draußen" ist beabsichtigt. Vor der Kamera spricht Vincent Boger sehr schnell, fast so, als ob er damit seine Aufregung überspielen muss. Zugleich macht er einen erstaunlich selbstbewussten Eindruck, wenn er über Themen spricht, in denen er sich auskennt: Naturwissenschaften, Geschichte, Technik, Computer, Youtube.
Youtube ist bei Jugendlichen auf Platz Zwei nach WhatsApp
Immer mehr Menschen nutzen Youtube nicht nur zum Schauen von lustigen Filmchen, Musikvideos oder Tutorials à la „Wie binde ich einen Krawattenknoten richtig?“, sondern zur Vertiefung und Wiederholung von Unterrichtsinhalten. Kürzlich hat der Rat für Kulturelle Bildung eine Studie veröffentlicht, wonach 86 Prozent der 12- bis 19-Jährigen regelmäßig Youtube nutzen, jeder Zweite zum Lernen für die Schule. Damit ist Youtube nach Google die zweitwichtigste Informationsplattform für Jugendliche und gehört zu den meistgenutzten Medien hinter Whatsapp (92 Prozent) und vor Instagram und Facebook (je 61). Knapp die Hälfte der 818 befragten Jugendlichen gab an, dass sie Youtube für wichtig oder sehr wichtig für die Schule halten. Der Medienpädagoge Karsten Wolf, der an der Uni Bremen den Einsatz von Lehrvideos erforscht, sagt: „Youtube gehört zur Lebenswirklichkeit von jungen Menschen. Und weil sie sowieso dort unterwegs sind, nutzen sie die Videosauch für Schule oder Uni.“
10 bis 30 Stunden pro Woche für ein Video
Der Nachwuchs-Youtuber Vincent Boger greift in seinen Videos manchmal Themen aus dem Unterricht auf, teilweise spricht er aber auch über Dinge, die ihn persönlich interessieren. Zwischen 10 und 30 Stunden investiert der 14-Jährige jede Woche, damit er mittwochs pünktlich um 15 Uhr ein neues Video auf YouTube hochladen kann. „Es wäre mein Traum, eines Tages so professionell Informationsvideos zu produzieren, dass ich davon leben kann“, sagt er. Bisher schlagen ihm andere Nutzer zwar gelegentlich Ideen für Videos vor, Geld ist dabei aber noch nie geflossen. Mit seinen 276 Abonnenten ist er aber noch nicht allzu bekannt. Dennoch: Maximal 50 der Abonnenten seien Verwandte oder Schulkameraden, sagt er, die verbliebenen haben den Kanal des Jungen abonniert, weil sie seine Videos gut finden.
Eines der großen Vorbilder für Vincent Boger ist der Youtube-Kanal Simple Club von Alexander Giesecke und Nicolai Schork. Die beiden 23-Jährigen, gebürtig aus dem baden-württembergischen Mosbach, haben 2015 den inzwischen bekanntesten deutschsprachigen Anbieter für Online-Nachhilfe auf Youtube gegründet. Simple Club ist mit mehr als 2 Millionen Abonnenten auf Youtube und knapp 30 Mitarbeitern längst zu einem profitablen Unternehmen geworden. Neben Simple Club ist unter Schülern auch Daniel Jung mit seinem Kanal Mathe by Daniel Jung gefragt; er hat mehr als eine halbe Million Abonnenten. Weniger für die Schule, aber beliebt, um das Allgemeinwissen aufzubessern, ist der Kanal Mr. Wissen 2 Go von Mirko Drotschmann mit einer knappen Million Abonnenten.
Lehrende kritisieren die knappen Erklärungen
Für viele Schüler und Studenten sind Menschen, die beruflich oder in ihrer Freizeit Erklärvideos ins Internet stellen, ein Glücksfall. Kompakt und kostenfrei bekommen sie Dinge erklärt, die sie nicht verstehen oder bei denen sie keine Lust haben, sie sich selbst zu erarbeiten. Zu den Konsumenten solcher Videos gehört zum Beispiel der Stuttgarter Student Patrick Steinle. „Die Schule oder die Uni wird durch Youtube nicht ersetzt, die Videos sind eine Ergänzung“, betont der 20-Jährige. Er findet die kurzen Videos manchmal aber effektiver als 45- oder 90-minütigen Unterricht: „Auf Youtube kann man sich seinen Lehrer aussuchen, dem man gerne zuhört.“ Sein Kommilitone Felix Arnold ergänzt: „Die Youtuber verwenden eine lockere Sprache; man wird als junger Mensch abgeholt.“ So wird in den Videos von Simple Club bei komplexen Themen zwischendurch etwa auch mal der Schriftzug „Dafuq?!“, kurz für „What the fuck?“ (deutsch: „Was zur Hölle?“) eingeblendet.
Von einigen Lehrern und Dozenten wird genau diese Lockerheit kritisiert. Teilweise werde in den Videos auch eine gewisse Anti-Schul-Attitüde vermittelt, wenn von „scheiß Mathe“ oder Ähnlichem die Rede sei, sagt Karsten Wolf. Zudem seien die Erklärungen teils sehr komprimiert. „Lehrer kritisieren, dass Schüler dort nicht verständnisorientiert lernen, sondern ihnen nur so viel beigebracht wird, dass sie die Aufgaben in einer Klausur irgendwie lösen können.“ Zugleich würden viele Schüler und Studenten aber genau dies schätzen: Erklärungen ohne ablenkende Informationen.
Auf Youtube lässt sich ohne Angst lernen
Auch Sebastian Wildermuth, Wirtschaftsinformatikstudent an der Uni Stuttgart, nutzt Videos zum Verstehen von komplizierten Lehrinhalten – etwa, wie man richtig programmiert. „Für mich ist der große Vorteil auf Youtube, dass sich die Kanäle rasant weiterentwickeln“, sagt er. Wenn ein Lehrvideo schlecht gemacht sei oder Fehlinformationen enthalte, würden die Macher negative Kommentare oder Bewertungen erhalten – und könnten die Fehler sofort verbessern. Dozenten oder Lehrer würden viel seltener ehrliches Feedback bekommen.
Der Experte Karsten Wolf nennt einen weiteren Vorteil: „Das Lernen mit Youtube ist viel weniger angstbesetzt als in der Schule oder der Uni. Man kann sich ein Video beliebig oft anschauen – so lange bis man den Inhalt irgendwann verstanden hat. Und man kann auch mal 20 Sekunden zurückspulen, wenn man von einer Whatsapp-Nachricht abgelenkt wurde.“ Er findet, dass sich Lehrende diesbezüglich eine Scheibe von Youtubern abschneiden könnten: „Lehrer müssten viel positiver mit Fehlern umgehen und nicht mit Sitzenbleiben oder Ärger mit den Eltern drohen.“ Youtuber würden den jungen Menschen stattdessen das Gefühl vermitteln: „Hey, wir sitzen alle im selben Boot. Ich hab das am Anfang auch nicht verstanden, aber ihr schafft das schon!“
Mit genügend Abonnenten lässt sich Geld verdienen
Freilich betreiben die meisten Bildungs-Youtuber diesen Aufwand nicht umsonst. Wer eine gewisse Anzahl an Abonnenten und Aufrufen für seine Videos hat, verdient Geld. Zwar äußert sich kaum ein Youtuber detailliert zu Summen, aber klar ist: Wer Fans in sechsstelliger Anzahl hat, kann davon sehr gut leben. Youtube selbst verdient mit Werbung und Tricks, mit denen sie Nutzer so lange wie möglich auf der Plattform halten. So beginnt nach dem Schauen eines Erklärvideos direkt das nächste Video. Nicht immer handelt es sich dabei um Lerninhalte, schließlich hat Youtube genug Daten von jedem Nutzer, um genau dessen Interessen zu kennen.
Patrick Steinle kennt die Kritik, ist aber dennoch froh über die frei zugänglichen Videos im Netz. Der 20-Jährige sah sich erstmals ein Erklärvideo an, als er im Chemie-Leistungskurs in der Oberstufe maßlos überfordert war. Am Ende war seine Chemienote im Abiturzeugnis zwar nicht herausragend, „aber ich bin mir sicher, dass die Videos mich zumindest vor dem Unterpunkten, also der Note Vier oder noch schlechter, gerettet haben.“
Die effektivste Form, nachhaltig zu lernen, ist aber das eigenhändige Erstellen von Erklärvideos, weiß Vincent Boger. „Wenn ich anderen im Video etwas erklären muss, merke ich, an welcher Stelle ich noch unsicher bin.“ Dann bessere er nach – so lange, bis er zufrieden ist und mit gutem Gefühl mittwochs um 15 Uhr ein neues Video auf Youtube hochladen kann.