Und dann war das Album plötzlich da. Keine Single-Auskopplungen vorab, keine Werbekampagne, keine Musikvideos, lediglich einige wenige Social-Media-Posts kurz vor dem Überraschungs-Release, der auch noch auf einen Montag fiel und nicht, wie selbst bei unangekündigten Veröffentlichungen üblich, auf einen Freitag. Man hat das Prinzip zuletzt immer öfter erlebt, allerdings eher bei Großkünstler - Drake, Kanye, in etwas anderer Form Beyoncé. Diese Liga und immer hatte es etwas von Kampfansage, auch an die Branche, mehr aber wohl an die Konkurrenz: Eure Regeln gelten für uns nicht mehr.
Jetzt ist es die britische Rapperin Little Simz, die bei der Veröffentlichung ihres neuen Albums "No Thank You" die Gepflogenheiten des Business' ignoriert. Und da wird es nun etwas spannender: Simz, bürgerlich Simbiatu Ajikawo, ist zwar eine höchstrelevante Stimme im Rap und außerdem ein Kritikerliebling. Ihr 2021 erschienenes, famoses Vorgängeralbum "Sometimes I Might Be Introvert" erhielt unter anderem den sehr angesehenen Mercury Prize für das beste Album. Eine neue Platte ist bei ihr aber längst kein Selbstläufer. Wenn eine wie Simz ohne jede Vorwarnung Musik in die Welt schickt, ist das ein trotziger, vielleicht sogar latent aufwieglerischer Akt (oder es steht unter Resterampe-Verdacht - und das ist hier nun eindeutig nicht das Thema).
"No Thank You" (Forever Living Originals / AWAL Recordings), das fünfte Studioalbum der 28-Jährigen, klingt denn auch wie die konsequente Weiterentwicklung des latent aufwieglerischen Vorgängers. Mehr noch, Simz hat mit dieser Platte ihren eigenen, unverkennbaren Sound endgültig gefunden. Produzent Inflo - ein Kindheitsfreund der Rapperin, mit dem sie schon auf den beiden Alben zuvor zusammenarbeitete - verteilt Gospel- und Soul-Samples großzügig auf beinahe jeden Beat; mal als einzelne Stimme in abrupt abgeschnittenen Bits, mal als volltönende Chor-Untermalung. Dazu minimalistische Retro-Breakbeats, stolpernde Bassdrums, trockene Snares, nervös schwingende Hi-Hats. Alles gerade noch so im Takt, alles damit aber auch wunderbar organisch, atmend, lebendig.
Und als Klammer: Orchesterpomp. Streicher greifen die Melodie von Bass oder Gesangssample auf und sorgen mit Crescendi für Spannung, die sich häufig in den Refrain auflöst oder abrupt in eines der vielen Instrumentals übergeht. In der Dramatik noch immer Filmmusik-opulent - aber weniger als beim Vorgängeralbum. Insgesamt ist "No Thank You" schlanker, wohldosierter, ausgereifter. Stimmiger.
Das französische "Merci" spricht sie englisch aus - "Nein danke" wird so zu "Keine Gnade"Man höre stellvertretend etwa "Gorilla": Fanfaren-Intro, Flughöhe Blockbuster-Intro. Dann kippt das Ganze aber. Der Beat rumpelt und das anbetungswürdig lässige Kontrabass-Lick, das man schon aus "Concrete Schoolyard" von Jurassic 5 kennt, schmiert seinen schlurfenden Groove in die Szenerie. Die ideale Basis für Simz' Sprechgesang also. Technisch gehört sie ja schon seit Jahren zu den besten und so streift sie auch auf ihrem neuen Album scheinbar mühelos und mit hoher Geschwindigkeit umher, reiht mehrtaktige Reimketten aneinander, biegt Silben virtuos zurecht. Anders gesagt: "Sim Simma, who got the keys to my bloodclaat Bimmer? / Big time driller, monkey to gorilla / Who is this woman that I'm seein' in the mirror? / Drink '42 and smoke cigar / Name one time where I didn't deliver / Silent figure".
Inhalt jetzt laden
In den folgenden Zeile dann Binnenreime, Rhythmus-Schaulaufen, irre Lässigkeit. Rap-Technik für Fortgeschrittene.
Und, siehe oben, immer wieder Spitzen gegen die Musikindustrie: "Everybody here gettin' money off my name / Irony is I'm the only one not gettin' paid". Alle machen also Geld mit ihrem Namen - nur sie selbst nicht. "No Merci" heißt der Song, gewissermaßen der Titeltrack des Albums. Weil Simz das Französische aber englisch ausspricht, wird aus "Nein danke" allerdings "keine Gnade". Eine Abrechnung, paradigmatisch für die gesamte Platte - und für den unkonventionellen Release.
Offenbar hat sich bei der Rapperin viel Frust angestaut: Vor einigen Monaten feuerte sie Medienberichten zufolge ihren Manager, der sie sieben Jahre lang begleitet hatte. Im April hatte Simz zudem ihre US-Tour absagen müssen. Zu groß wären die finanziellen Verluste gewesen, schrieb sie damals auf Twitter. Auch das ein Phänomen des Corona-Jahres: Der Mittelbau hatte es auch 2022 finanziell noch extrem schwer.
Die Independent-Künstlerin jedenfalls hat keinen Majorlabel-Vertrag und veröffentlichte ihre Musik bislang unter dem eigenen Label Age 101 Music. "No Thank You" ist nun bei der Plattenfirma ihres Produzenten Inflo erschienen und thematisiert vor allem die Schwierigkeit, als (durchaus erfolgreiche) Künstlerin in der Musikindustrie zu bestehen, wenn man sich nicht den Zwängen eines großen Labels unterwerfen möchte. Ein Kampf gegen Windmühlen. Das schon. Aber immerhin: Aus der Wut ist Simz' bislang bestes Album entstanden.