Nach der Urteilsverkündung gegen Derek Chauvin benötigt die USA dringend eine Polizeireform, damit es nicht noch mehr Schwarzen Menschen wie George Floyd ergeht. Eine Analyse aus den Staaten.
Minneapolis - Nach Ansicht von Derek Chauvins Mutter ist ihr Sohn unschuldig. In dem Strafprozess gegen den ehemaligen Polizisten, der vor über einem Jahr den Afroamerikaner George Floyd tötete, hatten die Geschworenen bereits vor etwa zwei Monaten anders entschieden, nämlich schuldig in allen drei Anklagepunkten. Am Freitagnachmittag (Ortszeit) wurde im Gerichtssaal in Minneapolis, Minnesota das Strafmaß verkündet: 22,5 Jahre Haft für Derek Chauvin für das schwerste Delikt der Anklage, Mord zweiten Grades - nach deutschem Strafrecht Totschlag mit bedingtem Vorsatz.
Es ist eine lange Haftstrafe, wenn man bedenkt, dass für Angeklagte ohne Vorstrafen normalerweise 12,5 Jahre vorgesehen sind. Die Staatsanwaltschaft hatte 30 Jahre, die Verteidigung eine Bewährungsstrafe gefordert.
Prozess gegen Derek Chauvin - Familie von George Floyd im GerichtDer Kontrast der Emotionen im Gerichtssaal hätte kaum stärker ausfallen können: Fast alle, die am Freitagnachmittag vor Gericht sprechen, zeigen beziehungsweise erzeugen mit dem Gesagten Emotionen - George Floyds Tochter, sein Neffe, seine beiden Brüder, sogar der Staatsanwalt muss während seines Plädoyers mehrmals schlucken und mit den Tränen kämpfen. Auch Dereck Chauvins Mutter, die sich und ihren Sohn als Opfer der Umstände sieht, ist sichtlich bewegt.
Nur einer sitzt völlig regungslos da, die einzige Bewegung ist das gelegentliche Blinzeln, das seinen kalten, leeren Blick unterbricht. Derek Chauvin zeigt keinerlei Gefühlsregung - nicht als die Aussage von George Floyds 7-jähriger Tochter Gianna per Video gezeigt wird, nicht als George Floyds Bruder ihn fragt, was er gedacht habe, als er seinem Bruder sein Knie auf den Hals drückte, bis er starb, nicht als Richter Peter Cahill das Strafmaß von 22,5 Jahren Haft verkündete.
Mord an George Floyd: Derek Chauvin muss mindestens 14 Jahre in HaftDerek Chauvin wird mindestens die nächsten 14 Jahre in Haft verbringen, bevor er bei guter Führung entlassen werden könnte. Womöglich wird sich seine Haftdauer aber auch verlängern, denn er ist zusätzlich in einem Strafprozess auf Bundesebene angeklagt, weil er beschuldigt wird, durch seine Tat die Bürgerrechte von George Floyd verletzt zu haben. Überdies ist er noch in einem weiteren Strafverfahren auf Bundesebene wegen der Verletzung der Bürgerrechte eines damals 14-jährigen Schwarzen angeklagt, den er 2017 bei einer Festnahme bei der Kehle packte, mehrmals mit einer Taschenlampe auf den Kopf schlug und seine Knie auf dessen Hals und Rücken drückte, während der Jugendliche in Handschellen auf dem Boden lag. Außerdem ist der Ex-Polizist in seinen 19 Dienstjahren aufgrund von 18 Beschwerden wegen exzessiver Gewaltanwendung im Dienst aktenkundig.
In einem Strafprozess geht es indes allein darum, den konkreten Fall rechtlich zu bewerten und ein Urteil zu fällen, das der Schuld des Täters entspricht. Dies betont der vorsitzende Richter bevor er das Strafmaß verkündet. Dennoch hat dieses Urteil eine weitreichendere Wirkung - für die Familie von George Floyd, für die schwarze Community in den USA und für Menschen überall auf der Welt, die diese offene, gleichgültige Zurschaustellung tödlicher Gewalt durch die Polizei verstörte. Richter Cahill berücksichtigte bei der Strafzumessung zwei erschwerende Umstände: zum einen, den Missbrauch eines Vertrauens- und Autoritätsverhältnisses des Ex-Polizeibeamten Derek Chauvin, zum anderen, die besondere Grausamkeit der Tat.
Tod von George Floyd: Seine Familie trauert lebenslangWährend Derek Chauvin nun also eine mehrjährige Haftstrafe verbüßen muss, bedeutet George Floyds Tod für dessen Familie lebenslänglich, wie sein Bruder es ausdrückt. Anders als im deutschen Strafverfahren, wird im US-Strafprozess dem Opfer beziehungsweise seinen Hinterbliebenen mehr Bedeutung beigemessen und vor Gericht eine größere Rolle eingeräumt. So sagte die Tochter von George Floyd aus, dass sie immer mit ihrem Vater zu Abend aß und, „mein Papa hat mir immer beim Zähneputzen geholfen." Auf die Frage, was sie ihrem Vater in diesem Moment sagen würde, antwortet das Mädchen: „Ich würde sagen, ich vermisse dich und ich habe dich lieb."
Damit anderen schwarzen Kindern das Schicksal von Gianna Floyd erspart bleibt und sie nicht vor Gericht aussagen müssen, dass ihnen ihr Vater fehlt, der grundlos von der Polizei getötet wurde, braucht es dringend eine Polizeireform. Der George Floyd Justice in Policing Act wurde bereits im Repräsentantenhaus des US-Kongresses verabschiedet, doch hat derzeit keine Chance auf Zustimmung des Senats, sofern nicht die Filibuster-Regel abgeschafft wird, sodass die Demokraten mit einfacher Mehrheit abstimmen könnten und nicht auf Stimmen der Republikaner angewiesen wären. Die Notwendigkeit betont auch Keith Ellison, der Generalstaatsanwalt von Minnesota, in einer Pressekonferenz im Anschluss an die Strafmaßverkündung: „Der George Floyd Justice in Policing Act muss verabschiedet werden - der Kreislauf der Untätigkeit muss enden!"
Urteil gegen Derek Chauvin - viel Solidarität mit der Familie von George FloydDie Reaktionen von Menschen vor dem Gerichtsgebäude und im Rest der USA sind gemischt: Während viele in dem vergleichsweise hohen Strafmaß von 22,5 Jahren ein gutes Zeichen sehen, sind andere enttäuscht, dass die Haftstrafe nicht höher ausgefallen ist. „Dies ist die längste Haftstrafe, zu der ein Polizeibeamter in der Geschichte Minnesotas jemals verurteilt wurde", sagt der prominente Anwalt der Familie Floyd, Ben Crump, nach der Strafmaßverkündung. „Doch dies sollte keine Ausnahme sein, wenn eine schwarze Person durch Polizeigewalt stirbt. Es sollte die Norm sein." Töten Polizist:innen im Dienst, werden nur etwa 1,1 Prozent von ihnen wegen Mordes oder Todschlags angeklagt. Und nur rund 0,04 Prozent der Fälle tödlicher Polizeigewalt enden mit der Verurteilung wegen eines Tötungsdelikts.
Da er nun wegen Todschlags verurteilt wurde, ist es Derek Chauvin für immer untersagt, Schusswaffen, Munition oder Sprengstoff zu besitzen. Auch muss er sich als Gewaltstraftäter registrieren lassen. Ein tiefer Fall für den Angeklagten, der nach Aussage seines Verteidigers seinen Job als Polizist liebte und „es mochte, Menschen zu helfen." Am Ende der Anhörung vor der Strafmaßverkündung erhielt der Angeklagte, der während des Prozesses von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machte, ein letztes Mal die Möglichkeit zur Stellungnahme. Er bekundete mit einem flüchtigen Blick zu der Familie von George Floyd sein Beileid und erklärte, in Kürze würden weitere Informationen folgen, von denen er hoffe, sie würden bei der Familie für Seelenfrieden sorgen. Bei dem US-TV-Sender CBS News nannte die Strafverteidigerin und Rechtsexpertin Rikki Klieman diese Aussage Derek Chauvins „nicht nur bizarr, sondern auch sadistisch". Derek Chauvins Mutter dagegen ließ die Öffentlichkeit wissen, dass er ein guter Mensch und ihr Lieblingssohn sei. (Johanna Soll)
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