Wenn Stefan Liebich im Bundestag Besucher empfängt, erzählt er ihnen gerne eine Anekdote aus seiner Kindergartenzeit. „Meine Mama sagt heute noch, dass ich immer Bestimmer werden wollte." Natürlich nicht im Sinne eines Alleinherrschers. Es gebe eben diejenigen, die sich gerne zu Wort melden, und diejenigen, die froh sind, dass sich die anderen melden.
In der Linksfraktion gibt es viele, die sich gerne zu Wort melden. Bestimmer sind sie allerdings nicht. Seit ihrem Einzug in den Bundestag, damals noch als PDS, ist die Linke in der Opposition.
Das bedeutet Tausende abgelehnte Anträge, weniger Redezeit, kurz: die ewige Unterlegenheit gegenüber der regierenden Mehrheit. Maus gegen Elefant. Die Linke ist eine ziemlich aggressive Maus. Oft scheint sie schon aus Prinzip dagegen zu sein.
Aggressiv wirkt Stefan Liebich nicht. Der graublaue Anzug sitzt perfekt, die jugendliche Stimme ist ruhig und klar. Geschmeidig zieht er vor dem Gast die Tür auf. Bezeichnet man ihn als aufstrebenden Jungpolitiker, lächelt er. „Sie schmeicheln mir."
Wenn es nach ihm geht, ist die Existenzberechtigung der Linkspartei längst nicht mehr nur die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, ihre alleinige Aufgabe nicht mehr Opposition. Stattdessen soll es, endlich, weitergehen: Regierungsbeteiligung 2017, rot-rot-grüne Koalition auf Bundesebene.
Er sitzt eigentlich überhaupt nur deshalb hier, scheint es. „Ich mache Politik, um Dinge zu verändern. Und wenn man regiert, kann man noch mehr verändern."
Das klingt logisch. Und doch wird er dafür angefeindet. Denn: Große Teile der Linken wollen überhaupt nicht regieren. Kompromisse einzugehen, um die eigenen Ziele wenigstens stückweise zu erreichen, lehnen sie ab. Ganz oder gar nicht, Opposition ist Ehrensache.
Die Kompromissbereitschaft eines political animalStefan Liebich ist 42 Jahre alt und sitzt seit sechs Jahren im Bundestag. Seine Fraktion vertritt er im Auswärtigen Ausschuss, einem der größten, wichtigsten und geheimsten aller parlamentarischen Gremien. Wer hier Mitglied ist, aus dem soll noch was werden. Oder er war schon mal was, so wie der Vorsitzende Norbert Röttgen, ehemaliger Bundesminister.
Auch Stefan Liebich war schon jemand, bevor er hierher kam. Fraktionsvorsitzender der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus, Landesvorsitzender mit 29, Bezirksvorsitzender mit 24. Eine steile Karriere für den schlaksigen Jungen aus dem Ostberliner Randbezirk Marzahn-Hellersdorf, der einen Tag nach seinem 18. Geburtstag in die PDS eintritt und sich alles vorstellen kann, nur nicht, Berufspolitiker zu werden.
Er studiert BWL und Informatik, weil er schnell Geld verdienen möchte. Die Partei, so erinnern sich Genossen von damals, ist für ihn ein „Projekt", an dem er eifrig mitarbeitet, in dem er sich vor allem aber ausprobiert.
Dann macht er plötzlich doch ernst. 1995 wird er ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt, obwohl er schon den Arbeitsvertrag beim Softwarekonzern IBM in der Tasche hat. Bald danach ist er Vorsitzender der Berliner PDS. Über seine erfolgreichen Koalitionsverhandlungen mit der SPD sprechen viele noch heute.
An diesem Punkt beginnt seine politische Laufbahn als einer, dessen Markenzeichen bald die mächtigste politische Tugend ist: Kompromissbereitschaft, gepaart mit dem Spürsinn und der Härte eines political animal.
Aber wo wird diese Karriere enden? Welche Zukunft hat jemand, der Bestimmer sein will, mit dem Parteibuch der chronischen Außenseiter?
Er will Vernunft statt DogmenDurch die Abgeordnetenlobby des Reichstagsgebäudes flutet die Nachmittagssonne. Stefan Liebich bestellt Kaffee und Wasser, legt die Fingerspitzen aneinander und hört aufmerksam zu. Es gibt mittlerweile einige, die über ihn sagen, er gehöre eigentlich in die SPD. Oder gleich in die CDU.
Vor allem seine außenpolitischen Positionen sind nicht mehr die alte linke Schule, die viele Mitglieder seiner Partei noch gewohnt sind. Als einer der ersten und wenigen Linken ist Liebich nicht mehr grundsätzlich gegen Einsätze der Bundeswehr im Ausland.
„Zu sagen, ein Militäreinsatz sei immer falsch, ist keine sinnvolle Position", sagt er. Er will lieber vernünftige Entscheidungen treffen als verstaubte Dogmen predigen. Immer wieder bringt er damit den mächtigen linken Flügel seiner Partei gegen sich auf.
Die Frontlinie, die zwischen Liebich und einem Großteil der Linkspartei verläuft, ist aber eigentlich eine andere. Viele werfen ihm vor, sich den anderen Parteien an den Hals zu werfen. Seit Jahren spielt er mit einem Kreis anderer junger Abgeordneter von SPD und Grünen die Möglichkeiten einer rot- rot-grünen Koalition durch, oft abends beim Bier. „R2G" nennen sie sich, zweimal Rot, einmal Grün.
Für viele in der Linkspartei macht Liebich das zum Verräter. Nicht aber für Fraktionschef Gregor Gysi. Auch er versucht, die Linke auf regierungsfähig zu trimmen, und duldet immer seltener die Querelen der „Fundis".
Am Tisch mit Deutscher Bank und RüstungsindustrieGysi ist es auch, der Liebich den Posten im Auswärtigen Ausschuss verschafft, als der 2009 ins Parlament kommt. Eigentlich sollte es die Parteilinke Sevim Dagdelen werden, die nahezu die komplette Fraktion hinter sich hatte. Aber Stefan Liebich überzeugt Gysi, dass der Weg in die Regierung nicht an den etablierten Parteien und ihren Themen vorbei führt, sondern mitten hinein.
2013 wird er, als erster Linken-Politiker überhaupt, Mitglied der Atlantik-Brücke, einem der mächtigsten Think Tanks für deutsch-amerikanische Beziehungen. Auf der Mitgliederliste: Bundeskanzlerin Merkel, Deutsche Bank-Vorstand Jürgen Fitschen und Bild-Chefredakteur Kai Diekmann. Auch die Rüstungsindustrie sitzt mit am Tisch. Kein klassischer Umgang für einen Linken.
In Partei und Fraktion brodelt es. Im Mai 2015 fordern zwei Kreisverbände der Linkspartei seinen Rauswurf. Er betreibe „Kumpanei mit der US-Kriegspolitik". Aber Liebich wiederholt immer wieder: Er wolle linke Positionen in den Verein tragen, anstatt die Überzeugungen in der Linken zu verwässern. Es bringt wenig.
Wieder stellt sich Gysi vor seinen Schützling: Liebich sei auch auf seinen Wunsch hin der Atlantikbrücke beigetreten. Wer nicht verstehe, welche wichtige Aufgabe Stefan Liebich dort erledige, beweise ein „mangelndes demokratisches Verständnis".
Solche Flügelkämpfe sind in der Linken an der Tagesordnung. Und doch: Die Rhetorik wird schärfer, die Fronten unversöhnlicher.
Sollte er „rübermachen" zur SPD?Nach außen steht die Partei damit freilich nicht gut da. SPD-Politiker überbieten sich immer wieder in Bekräftigungen, die Linke sei nicht regierungsfähig. Gysi will schlichten. In einem Interview gibt er zu Protokoll: „Ich sage meinen Linken immer, ihr müsst auch mit rechten Sozialdemokraten reden. Und der SPD sage ich, es reicht nicht, mit Stefan Liebich zu reden."
Das tut man dort allerdings viel zu gerne. Fragt man in SPD-Kreisen nach Stefan Liebich, heißt es: Guter Mann, der sollte mal zu uns rübermachen, anstatt sich mit den störrischen Linken abzumühen.
Hat er selbst schon mal daran gedacht? „Ja, klar", diese Antwort kommt sehr schnell. 2002, als er Fraktionsvorsitzender im Abgeordnetenhaus ist und die PDS die Bundestagswahl verliert, denkt er zum ersten Mal konkret an den Parteiaustritt. Und bleibt, um die Koalition mit der SPD in Berlin nicht aufs Spiel zu setzen. Und heute?
Liebich sagt, er habe sich "aus guten Gründen" gegen einen Parteiwechsel entschieden. „Ich gehörte zu einem sehr sozialistischen Elternhaus. Wir waren für das System. Die anderen böse. So habe ich es damals empfunden."
Als er mit zwölf von der Stasi umworben wird, freut er sich. Erst Jahre später, als die Mauer längst gefallen ist und er Fraktionskollegen über ihre Erfahrungen als Oppositionelle reden hört, fängt er überhaupt erst an, richtig nachzudenken. Diesen Weg, sagt er heute, hätte er nirgendwo anders gehen können.
Beim Thema NATO sind Verhandlungen fast unmöglichAber reicht das? Gerade brütet die R2G-Clique über dem ersten gemeinsamen Grundsatzpapier, eine Art alternativer Koalitionsvertrag. Aber: Die Verhandlungen stocken. Der Knackpunkt sind die NATO und Einsätze der Bundeswehr. Die SPD beharrt darauf, dass die Linke von ihren außenpolitischen Extremen abrückt.
Stefan Liebich stößt an seine Grenzen. Etwas hilflos fordert er von der SPD „mehr Vertrauen" in die rot-rot-grüne Idee. Dazu hat er allen Grund, denn man entfernt sich voneinander: Die Sozialdemokraten sind jetzt in der Regierung. Die Zeiten, als man unbeschwert gemeinsam über Schwarz-Gelb herziehen konnte, sind vorbei.
Stefan Liebich verhandelt in Sachen 2017 plötzlich als eine Art Oppositionsführer, und die Mitstreiter von eben sind auf einmal eine zweite Atlantikbrücke geworden. Ein Umgang, für den er sich gegenüber Leuten aus den eigenen Reihen rechtfertigen muss.
Die wiederum strapazieren die zarten Bande, die bei R2G entstehen, immer wieder durch medienwirksame Störfeuer. Im Zuge der Krim-Krise ist die NATO ein solch brenzliges Thema geworden, dass Verhandlungen fast unmöglich sind.
Wenn man Stefan Liebich darauf anspricht, spielt er die Differenzen herunter. Trotzdem ist ihm anzumerken, dass es jetzt wirklich frustrierend wird. Erstmals ist Rot-Rot-Grün in greifbare Nähe gerückt, aber über ihre Dogmen kommt die Linke einfach nicht hinweg - und die SPD nimmt sie deshalb immer noch nicht ernst.
Die Junge Welt nennt er „Linksradikale Tageszeitung"Niels Annen von der SPD, auch er Außenpolitiker und Mitglied der „R2G"-Clique, sagt über Liebich, er schätze ihn. Für seine Ernsthaftigkeit, seine „ausgewogene Rhetorik" - und die Entschlossenheit, mit der er in der Linksfraktion für eine vernünftige Außenpolitik streite. Dass Liebich die Partei befreien kann von denen, die einfach nicht weiterdenken wollen, bezweifelt Annen aber: „Die Linke braucht einfach noch Zeit."
Überhaupt lobt man in Kreisen der SPD, Liebich sei einer der wenigen, mit dem man in der Linken vernünftig reden könne. Allein: Vernunft und Pragmatismus sind in der Linkspartei fast schon Schimpfwörter. Die Junge Welt, gern gelesenes Blatt unter den Linkeren der Linken, stört sich allein daran, dass Liebich Politiker anderer Fraktionen „Kollegen" nennt.
Wenn Stefan Liebich umgekehrt über die Junge Welt spricht, sagt er „Linksradikale Tageszeitung", mit dem ironischen Lippenkräuseln eines Gymnasiallehrers. „Ich habe meinen Wahlkreis jetzt zweimal direkt gewonnen. Die Leute wissen, wen sie da wählen." Seine klare Meinung soll sein Kapital sein. Er möchte, dass sein Gegenüber an diesem Grundsatz keinen Zweifel hat.
Bei seinen Wählern mag er damit punkten. Im einflussreichen Arbeitskreis Internationale Politik seiner Fraktion ist Stefan Liebich damit aber ziemlich unbeliebt. Der linke Flügel hat hier die deutliche Mehrheit. Als es 2014 wieder um die Wahl der Obfrau oder des Obmannes für den Auswärtigen Ausschuss ging, bekam Liebich nur eine Stimme, Sevim Dagdelen elf.
Entschieden wurde aber in der ganzen Fraktion - und dort gewann Stefan Liebich. Gysi hatte an den richtigen Strippen gezogen. Viele der Fundis nehmen ihm und Liebich das bis heute übel. Über ihn sprechen wollen sie aber nicht, auch Sevim Dagdelen nicht. Terminprobleme, wie es heißt.
Die Belohnung für lange Jahre im AbgeordnetenhausStatt ihr reist Stefan Liebich heute mit dem Auswärtigen Ausschuss durch die ganze Welt. Auf seine Homepage hat er ein Foto gestellt, das ihn neben Peer Steinbrück bei einer Podiumsdiskussion in Washington zeigt.
Dazu erzählt er, dass er in den USA oft als Oppositionsführer begrüßt werde. Die Stimme, bisher leise und angenehm, ist jetzt voller Stolz. Dort, wo es nur Regierungs- und Oppositionspartei gibt, ist dieser Posten von größter Bedeutung.
Solche Anekdoten erzählt er gerne. Seine Arbeit im Bundestag sind die Belohnung für die langen Lehrjahre im Abgeordnetenhaus. „Da kommen ihm viele Erfahrungen zugute", sagt Udo Wolf. Er und Liebich sind schon seit den Neunzigern befreundet, als sie im Vorstand der PDS die Nächte durchmachten, um die Partei von einer Koalition mit der SPD zu überzeugen. Schon damals war es zäh mit den ganz Linken, aber am Ende regierte man gemeinsam.
Heute ist Wolf der Vorsitzende der Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. In seinem Büro prangt noch immer ein Spruch an der Wand, den Stefan Liebich zu seiner Zeit dort anbringen ließ: „Andere wollen regieren. Wir wollen verändern."
Verändert hat sich vieles in den Jahren, die seit seinem Einzug in den Bundestag vergangen sind. Die Entscheidung, Außenpolitiker zu werden, kam nicht zufällig. Zum einen war da das Kalkül, die Linke endlich durch vernünftige Aussagen zum Thema Internationale Politik punkten zu lassen. Aber Stefan Liebich wollte auch endlich mal was anderes machen als Sozialpolitik und dröge Landesangelegenheiten. Er wollte aufs Podium.
Da ist er am liebsten, daraus macht er kein Geheimnis - und da gehört er hin, das sagen viele, die ihn schon lange kennen. Auch der schicke Anzug ist Programm. Seitdem er im Bundestag sitzt, gibt es plötzlich Anlässe, bei denen alles darunter nur das Klischee vom schrulligen Linken bestätigen würde. „Stefan ist Typ Schwiegermutters Liebling, das hilft oft. Und man hört ihm gerne zu", sagt seine Büroleiterin.
Die Einladungen häufen sich: Podien, Botschafterdinner, Delegationsreisen. Als Berliner Abgeordneter hat er Heimvorteile: Wenn ein Gast des Auswärtigen Ausschusses außerhalb der Sitzungswochen in die Stadt kommt, empfängt ihn oft Stefan Liebich.
„Die Kreise, in denen du jetzt verkehrst"Derart glamourös ist das Leben als Abgeordneter natürlich nicht immer, besonders als Linker. Es ist Freitagabend im Karl-Liebknecht-Haus, der Parteizentrale der Linken in Berlin-Mitte, ehemaliger Osten. Man trifft sich zum „Basistag" - das heißt, ein Abgeordneter stellt sich den Fragen der Mitglieder seines Bezirks.
Heute ist Stefan Liebich dran. Sein Thema: Der Ukraine-Konflikt. Im Saal sitzen etwa vierzig Menschen, die meisten mindestens grauhaarig. Immer wieder klingeln Mobiltelefone, jedes davon scheint auf maximale Lautstärke eingestellt.
Liebich spricht ruhig und sicher, er redet über Vernunft und Fairness, lobt auch die Bemühungen von „Herrn Steinmeier" und „der Frau Bundeskanzlerin". Die Menschen im Saal schütteln den Kopf, als er von seinem Manuskript abliest: Putin bricht das Völkerrecht.
Er versucht zu erklären, dass eine Mitgliedschaft in der Linkspartei nicht automatisch bedeute, russlandfreundlich zu sein. Seine einleitenden Worte, „Ich bitte Euch vorab um Verständnis, dass ich nicht für eine Seite in diesem Konflikt Partei ergreifen werde", interessieren niemanden so recht.
Ein älterer Mann steht auf und ruft: „Welche Lösung wird denn angeboten von den Kreisen, in denen du jetzt verkehrst?" Seine Stimme überschlägt sich fast. Alle lachen, der Mann nicht, es ist ihm ernst.
Auch Stefan Liebich lacht nicht. Stattdessen nimmt er seine Brille ab und reibt sich die Stirn, die Mundwinkel bleiben bestenfalls höflich nach oben gezogen.
„Putin hat mit seinem Vorgehen letztlich die Nato gestärkt", sagt er irgendwann. „Ich muss euch die Dinge ja so sagen, wie ich sie sehe." Es wirkt hilflos. „Das war noch gar nichts", sagt er hinterher, bevor er zügig um die Ecke biegt, ohne sich noch groß mit den Genossen zu unterhalten.
Das Direktmandat ist sein QualitätssiegelWäre das Publikum an diesem Abend ein anderes gewesen, hätte Liebich punkten können. Seinen Wahlkreis Pankow hat er 2009 Wolfgang Thierse abgejagt und zweimal in Folge direkt gewonnen. „Ziemlich cool" nennt er das und grinst zum ersten Mal breit.
Auf ihn können sich scheinbar alle einigen: die reichen Muttis im Prenzlauer Berg, die Bürgerlichen in Pankow und sogar die alten Ostlinken an den nördlichen Rändern. Wie kommt das? „Das funktioniert nicht anders als im Parlament auch. Ich sage einfach, was ich denke", sagt Stefan Liebich. Bei jedem anderen Politiker würde das prätentiös klingen.
Ein Direktmandat haben in der Linksfraktion nicht viele, es ist eine Art politisches Qualitätssiegel: Vom Wähler geprüft und für gut befunden. Dagegen kann niemand etwas sagen, weder politische Gegner noch Krawallmacher aus den eigenen Reihen.
Als Gysi Stefan Liebich wegen dessen Mitgliedschaft in der Atlantikbrücke in Schutz nahm, griff er auf diesen Trumpf zurück. Direkt gewählt, in diesem Ausdruck steckt vieles, das die Linkspartei so gerne hätte: Erfolg, Beliebtheit, Legitimation. Genau das ist wichtig für Liebichs und auch Gysis Plan, die Partei in Richtung Regierung voranzubringen.
Geht fremd. @WillyBrandtHaus pic.twitter.com/IPPMMFrYzf
- Stefan Liebich (@berlinliebich) June 11, 2015
Natürlich gehört mehr dazu als deutliche Worte. Wenn Liebich im Bundestag am Rednerpult steht, hört in Pankow wohl kaum jemand zu. Liebich weiß sich zu helfen. Auf seiner Homepage speisen die Mitarbeiter fleißig Pressemeldungen ein, während Liebich über den Menüpunkten lässig grinsend wie auf einer Balkonbrüstung lehnt.
Er selbst twittert politische Cartoons, Fernsehinterviews und ein Bild von seinem Heimweg in den Sonnenuntergang. Hashtag: #berlinliebich. In einem Kulturzentrum in Prenzlauer Berg veranstaltet er „Brot, Pop & Politik": Frisches Brot wird gereicht, dazu spielt eine Band, dann plaudert er mit prominenten Gästen über Politik.
Den Bürger an sich betrachtet er ansonsten lieber aus der Distanz. „Stefan steht manchmal am Wahlkampfstand, als hätte er einen Stock verschluckt", sagt Udo Wolf.
Er zitiert Willy Brandt: Wandel durch AnnäherungStattdessen: Die Bühne. Am Abend nach dem Basistag sitzt Stefan Liebich wieder auf einem Podium. Neben ihm: Ex-Außenminister Joschka Fischer und Norbert Röttgen, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses. Es geht um internationale Verantwortung.
Wie schon bei den Genossen löst Liebich als Erstes den rhetorischen Airbag aus: „Ich bitte darum, meine Äußerungen nicht als Relativierungen zu verstehen." Relativieren, das machen die anderen. Am Vorabend hat er bissig erklärt, man müsse sich rot im Kalender anstreichen, wenn Sahra Wagenknecht einmal etwas nicht relativiere.
Überhaupt sagt er heute ziemlich viel, das er auch gestern gesagt hat. Dass Putin völkerrechtswidrig handele. Und dass man Russland als Linker nicht schönreden dürfe. Während Fischer und Röttgen sich irgendwo zwischen Europäischer Armee und Ukraine festbeißen, bleibt er ruhig. Und wird belohnt: Als er Willy Brandt zitiert - Wandel durch Annäherung, ausgerechnet - bekommt er als Einziger in der Runde an diesem Abend Applaus.
Den nutzt er, um für mehr Visafreiheit gegenüber Russland zu plädieren. Im Publikum hört man ihm zu, man klatscht wieder, dann noch einmal, man spricht noch danach über diesen Mann aus Pankow, der ganz anders ist als die von der Linken, die man so kennt.
Wäre an diesem Abend, in diesem Saal Bundestagswahl, Stefan Liebich würde Kanzler. Und dazu noch einer, der mit Inhalten überzeugen könnte. Aber heute ist keine Wahl, und morgen wird er wieder im Ausschuss sitzen als Vertreter einer Partei, die sich selbst im Weg steht.
Während Joschka Fischer vom Publikum belagert wird, Hände schüttelt und sich knipsen lässt, verschwindet Stefan Liebich auch an diesem Abend wieder schnell und leise.