Einsatzdatum: Donnerstag, 8. Januar 2015, 14:32 bis 19:30 Uhr. Einsatzort: Grünbach bei Neuschönau. Alarmierung über ILS Passau um 14:34:53 Uhr. Einsatzgrund: B3 - Wohnhausbrand. Der zweite Einsatzbericht der Freiwilligen Feuerwehr Neuschönau im neuen Jahr ist lang. Er listet genau auf, wie viele Feuerwehren beteiligt waren (zehn) und wie viele verletzte Personen es gab (eine), wer die Einsatzleitung hatte und wie die Schlagzeile in der Lokalpresse lautete („Auf Knall folgt Feuer").
Er erzählt vom schnellen Sterben eines Hauses, aber nicht vom Leben darin. Wie es, heruntergekommen und baufällig, 1988 wiederaufgebaut wurde. Mit eigenen Händen, von einem glücklichen Ehepaar, das ein Zuhause für seine Kinder suchte. Wie dieses Paar es fast wieder verloren hätte, weil er schwer krank wurde und sie den Kredit nicht mehr bedienen konnte. Er erzählt nicht, dass sechs Menschen ihre Kindheit darin verbrachten. Und auch nicht, wie Rosalinde Meininger im Feuer alles verlor, was sie sich über Jahrzehnte erarbeitet hatte. Ihr Zuhause, ihren Besitz, ihren Alltag, ihre Familie.
Im Moment fehlt schon das Geld für die Entsorgung des AsbestsNeuschönau ist ein Nest im Bayerischen Wald, 2000 Einwohner, Naturpark, Touristenpfade. Alfons Schinabeck ist seit vergangenem Jahr Bürgermeister, er macht das ehrenamtlich neben seiner Metzgerei. In seiner Bürgersprechstunde empfängt er heute, acht Wochen nach dem Feuerwehreinsatz, Rosalinde Meininger. Seitdem ihr Haus niedergebrannt ist, kommt sie oft her. Rosalinde - Witwe, fünf Kinder, eine Enkelin, müdes Gesicht und blassrote Strubbelfrisur - sagt jedes Mal „Herr Bürgermeister", wenn sie ihn anspricht. Irgendwann ruft Schinabeck sie lachend zur Ordnung, sie möge doch wieder „Du" sagen.
Er ist stolz auf seine Leute und die schnelle Hilfe für die Familie. Am Tag nach dem Brand kamen gleich 1000 Euro für das Nötigste: Unterwäsche, Hygieneartikel, Windeln für das Kind. Für alles weitere sorgt eine Gemeindestiftung. Mittlerweile ist eine ganze Wohnungseinrichtung zusammengekommen, dazu Kleidung und Spielzeug. Rosalinde träumt davon, das Haus wieder aufzubauen. Im Moment fehlt schon das Geld für die Entsorgung des Asbests in der Ruine.
Ein Fotoalbum, Hochglanz und pink, ist das Einzige, was geblieben ist, geschützt unter einem Sofa. Darin, fein säuberlich eingeklebt: Rosalinde und ihr Mann beim Balkenschleppen, auf dem Gerüst vor dem Haus, lachend. Die jüngste Tochter Frieda ist gerade geboren. Rosalinde arbeitet in der nahen Konservenfabrik, bis ihr Mann schwer krank wird. Sie pflegt ihn, bis er 2002 stirbt.
Manchmal bleiben nur hundert Euro zum LebenAllein mit fünf Kindern wird das Geld schnell knapp. 2003 muss Rosalinde das Haus der Bank überschreiben. Die Familie spart und knausert, um sich ihr Heim zurückkaufen zu können. Die Kinder verzichten auf Klamotten, Ausgehen, Reisen. Alles, was sie in diesen Jahren verdienen, stecken sie ins Elternhaus. Es gibt Zeiten, da bleiben nur hundert Euro im Monat zum Leben. Trotzdem, so erzählt es der Bürgermeister, beteiligen sich auch die Meiningers, als das neue Asylbewerberheim in Neuschönau Sachspenden benötigt.
Im Mai 2014 kaufen sie das Haus zurück, endlich. Die Kinder denken nicht daran, auszuziehen. Sie richten sich neu ein: Rosalinde unten, Frieda und ihre zweijährige Tochter Mia haben zwei Zimmer oben, die Zweitälteste Michaela hat ihre Räume, ebenso Markus, der einzige Sohn. Unten in der Wohnküche sitzen alle zusammen. Sie kaufen Möbel und träumen von einer neuen Treppe. Freunde, Familie, Nachbarn - die schönste Zeit verbringen sie auf der Eckbank in der Küche oder auf der Terrasse, während Mia auf ihrer neuen Schaukel quietscht. Sie wissen nicht, dass es in Deutschland keine Brandschutzversicherungspflicht mehr gibt.
Der 8. Januar 2015 ist ein Donnerstag. In Neuschönau liegt noch Schnee. Rosalinde ist bei der Arbeit, Michaela und Frieda sind schon zuhause. Frieda macht oben ein Mittagsschläfchen mit Mia, das machen sie immer so, wenn Frieda von der Arbeit kommt. Plötzlich knallt es. Der alte Holzofen im Erdgeschoss, mit dem das Haus geheizt wird, ist explodiert. Überall Flammen, Rauch quillt nach oben.
Den Frauen bleiben nur Sekunden. Frieda greift sich ihre Tochter und springt mit ihr aus dem Fenster, einfach so, ohne nachzudenken. Erst Wochen später wird sie zusammenbrechen. Michaela schafft es noch, Lucky zu retten, den kleinen Yorkshire-Terrier ihrer Mutter. Mit einem Schock und verbrannter Schulter kommt sie ins Krankenhaus. Die Polizei wird später ermitteln, dass die Abgase aus dem Holzofen nicht abziehen konnten. Vielleicht wurde der Kamin nicht richtig gewartet, vielleicht war der Ofen zu alt, es ist müßig, jetzt darüber nachzudenken.
Viel wichtiger eine Zahl: 130.000 Euro. So beziffert man den Verlust der Familie. Das Haus, die neugekauften Möbel, sie müssen sich an jeden Kauf erinnern: Babybett, Handys, Fernseher. Damit sie bei Stiftungen nach Spenden fragen können, muss der Bürgermeister ihnen eine Bestätigung schreiben, dass es wirklich gebrannt hat, wie eine Entschuldigung in der Schule.
Rosalinde knetet ihre Hände, als sie sagt, dass sie „sehr sehr dankbar" sei für die Hilfe aus dem Ort. Je mehr sie spricht, desto ausgeprägter wird das Niederbayerische aus ihrem Mund. Die Kinder soufflieren, wenn sie stockt. Sie wissen, die Mutter möchte nur eines: zurück nach Grünbach. Hier ist sie aufgewachsen, hier hat sie ihre Kinder großgezogen. Nun wohnt sie in der Kreisstadt, ohne Auto meilenweit weg. Zögerlich zählt sie auf, was ihr am meisten fehlt. Vor allem ihr Bett, in dem sie abends immer die Pläne für den nächsten Tag machte.
Heute geistern ihr jeden Abend dieselben Vorwürfe durch den Kopf. Hätte sie nicht doch etwas retten können? Warum hat sie sich nicht noch mal nach der Versicherung erkundigt?
Später an diesem Tag steigt sie vorsichtig die Steintreppe dahin hinauf, wo früher einmal die Haustür war. Der Bürgermeister ist dabei und passt auf, dass sie nicht in einen der rostigen Stahlträger tritt, die überall herumliegen. Mia tobt den Feldweg neben dem Grundstück rauf und runter. Noch heute wacht das Kind nachts auf, erzählt Rosalinde, panisch, und ruft „heiß, heiß!".
„Ich kann die Weiber doch nicht alleine lassen"Es riecht kaum nach verkohltem Holz. Der Geruch von Dung und Erde weht aus dem Dorf weiter unten herauf, man schnuppert Nässe und Gras, Schnee auch. Über die rußschwarzen Dachbalken, die hier und da aus den Trümmern ragen, blickt man kilometerweit über Felder und Hügel. „Die Aussicht war sagenhaft", sagt Rosalinde, während sie durch den Schutt stapft. Als sie sich zum Fenster vorgearbeitet hat, sieht sie das Bild ihrer verstorbenen Mutter, das immer noch im Schlafzimmer hängt, als sei nichts gewesen. Danach sagt sie dann nicht mehr viel.
Später sitzt sie an ihrem neuen Küchentisch und raucht. Es ist Samstag, sie hat frei. Seit mehr als zehn Jahren putzt sie in der Grundschule im Ort, um ihre Rente aufzustocken. Auch Frieda und Michaela putzen, in einer Mutter-Kind-Klinik in der Stadt. Markus, der einzige Sohn, ist Maurer. Er wohnt mit seiner Mutter, Frieda und Mia in der neuen Wohnung, obwohl er nur auf dem Sofa Platz hat. „Ich kann die Weiber doch nicht alleine lassen", sagt er.
Michaela wohnt bei ihrem Freund. Ein paar Sachen hatte sie da immerhin schon. Ob sie sonst auch irgendwann ausgezogen wäre? „Vielleicht." Sie ist dreißig Jahre alt.
Als hätte man ein Möbelhaus in eine Dreizimmerwohnung verfrachtetEs gibt Kaffee und Fertigkuchen, Mia trinkt Saft aus ihrer neuen Lieblingstasse mit Alfred Jodocus Kwak darauf. Vor dem Brand hat sie kaum ein Wort gesprochen. Heute plappert sie unentwegt: „Haus kaputt, Haus kaputt!" Sie schmatzt so zufrieden, dass alle ein bisschen lachen müssen.
Es ist alles da in dieser Küche: Kaffeemaschine, buntes Geschirr, sogar eine Eckbank gibt es wieder. Die Möbel durften sie sich selbst aussuchen von dem Geld, das ihnen eine Stiftung spendete. „Alles auf einmal, das war seltsam." Deshalb sieht es ein bisschen so aus, als hätte man ein Möbelhaus in eine Dreizimmerwohnung verfrachtet. Hier und da ein Blumentopf, Deko muss auch sein, findet Rosalinde.
In Friedas Zimmer stapeln sich blaue Ikea-Taschen mit Kinderkleidung, Kisten mit Spielzeug, Müllsäcke voller Wäsche. Alles gespendet. Vieles haben sie noch gar nicht ausgepackt, obwohl sie die Zeit eigentlich hätten. Kerstin, die Zweitjüngste, in Deggendorf verheiratet, dirigiert die Spenden, schreibt Briefe und Bitten. Von Stiftungen bis hin zu Einrichtungs-Shows im Fernsehen, nichts lässt sie unversucht. Vor einigen Tagen kam sie mit einem Nervenzusammenbruch ins Krankenhaus.
Die anderen versuchen, den Alltag weiterzuleben, ohne daran zu denken, was es vorher gab. Rosalinde und Frieda gehen arbeiten, mit Mias Betreuung wechseln sie sich ab. Den traditionellen Familienspaziergang am Sonntag machen sie hier in der Stadt nicht mehr.
Als Rosalinde an jenem Nachmittag im Januar hört, dass es bei ihr brenne, wiegelt sie zunächst ab. Warum sollte es ausgerechnet ihr Haus sein, Neuschönau ist weitläufig, der Rauch könnte von überall her kommen. Dann springt sie aber doch zum Bürgermeister ins wartende Auto. Als sie am Haus sind, muss sie mit Gewalt daran gehindert werden, hinein zu laufen. „Ich wollte nur heim", sagt sie.
Nächsten Monat zieht sie zurück nach Neuschönau, in eine neue Wohnung. Frieda und Mia kommen mit. Die Kinder haben Angst, dass die Mutter in der gewohnten Umgebung zusammenbricht.
„Manchmal würd´ ich schon gern wissen, warum es mich so hart getroffen hat", sagt Rosalinde dazu nur. Aber da ist niemand, der ihr das beantworten könnte. Sie fragt dann auch nicht weiter.