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Überstunden: Am Anschlag | ZEIT ONLINE

Hunderttausende Überstunden an der Grenze, zu wenig Personal gegen den Terror: Die Polizei sei am Ende ihrer Kräfte, beklagen Gewerkschafter. Ist es wirklich so schlimm?


Die Flüchtlinge kommen ohne Pause, die Polizisten an der deutsch-österreichischen Grenze machen deshalb auch kaum eine: Jeden ankommenden Flüchtling registrieren, möglichst herausfinden, woher er kommt, erfahren, wohin er gebracht werden soll, ein Strafverfahren einleiten wegen illegalen Grenzübertritts. Das ist die Standardprozedur, die die Bundespolizei an der deutsch-österreichischen Grenze durchführt, allein seit Anfang November mehr als 180.000 Mal. Tag und Nacht, sieben Tage die Woche.

Innerhalb von vier Wochen, zwischen Mitte September und Mitte Oktober, sammelten Bundespolizisten bei ihren Grenzkontrollen insgesamt eine halbe Million Überstunden, erklärt die Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen im Bundestag. Auf wie viele Beamte sich diese Überstunden verteilen, will die Bundespolizei nicht sagen.

Die Flüchtlingskrise heizt eine Diskussion wieder an: Den Stellenmangel bei der Polizei. "Wir haben keine Ressourcen mehr", so drastisch formuliert es Jörg Radek, Vizechef der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Im Schnitt leisteten die Beamten an der Grenze sechs Überstunden pro Tag, um die anfallenden Aufgaben zu erfüllen. Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), schimpft, diese Verhältnisse gingen "direkt zulasten der Gesundheit und der Familien der Beamten".

Die Forderung nach mehr Personal ist eine Kernaufgabe der Polizeigewerkschaften, sie wird regelmäßig wiederholt. Rafael Behr, Polizeiwissenschaftler und Soziologe, sieht sie deshalb gelassen. Er sagt: "Polizisten müssen immer wieder mehr leisten als üblich, wenn es zu Krisensituationen kommt." Zu behaupten, das System breche gerade zusammen, sei aber völlig überzogen. Das gleiche sich in der Regel wieder aus: "Hauptsache, der Ausnahmezustand wird kein Dauerzustand."

Doch wann sich die Situation an der deutsch-österreichischen Grenze wieder entspannt, ist noch nicht absehbar. Dazu kommt das zweite große Thema, das die Polizei in Beschlag nimmt: der Schutz vor Terrorismus. Schon nach dem Attentat auf die Pariser Redaktion von Charlie Hebdo im Januar waren die Sicherheitsvorkehrungen auch in Deutschland verstärkt worden. Innenminister de Maizière kündigte die Einrichtung einer neuen Anti-Terror-Einheit an, die Ende des Jahres einsatzbereit sein soll.

34 von 145 Bundespolizeirevieren nicht besetzt

Nach den jüngsten Anschlägen von Paris patrouillierten nun, wie nach vorherigen Terrorwarnungen, Polizisten mit Maschinenpistolen an Bahnhöfen und Flughäfen. Einige Reviere der Bundespolizei benötigen aufgrund ihrer Lage an bestimmten Verkehrsknotenpunkten, an denen die Terrorgefahr als besonders hoch eingeschätzt wird, zusätzliche Verstärkung von anderen Dienststellen. Auf der anderen Seite bedeutet das: 34 von insgesamt 145 Bundespolizeirevieren sind laut Bundesregierung derzeit nicht dauerhaft besetzt.

An der deutsch-österreichischen Grenze sind derzeit rund 500 Bundespolizisten im Einsatz, unterstützt vom Zoll. Nicht alle sind fest in Bayern stationiert, sondern werden aus ihren bisherigen Einsatzgebieten für bis zu drei Monate dorthin abgeordnet. Bald sollen weitere 850 dazukommen. Auch sie werden an anderen Stellen fehlen. Sogar Beamte der Küstenwache, die sonst auf der Nordsee patrouillieren, sind nun zwischen Berchtesgaden und dem Bodensee im Einsatz.

In den nächsten Jahren schafft die Bundesregierung zwar 3.000 zusätzliche Stellen bei der Bundespolizei. Allerdings müssen die neuen Beamten erst ausgebildet werden. Das dauert mindestens zwei Jahre. 3.000 sind außerdem zu wenig, kritisiert die Grünen-Bundestagsabgeordnete Irene Mihalic, selbst Polizistin und Expertin ihrer Fraktion für Innere Sicherheit: "Damit fängt man höchstens den Verlust der letzten Jahre auf, aber nicht die aktuellen Belastungen."

Sie will kurzfristige Lösungen: "Man sollte den Aufgabenbereich der Bundespolizei neu denken. Ist es zum Beispiel wirklich nötig, dass die Goldreserven der Bundesbank polizeilich bewacht werden? Eine weitere Möglichkeit wäre, intern das Personal umzuschichten. Einfache Verwaltungsaufgaben müssen nicht zwangsläufig von Polizeibeamten erledigt werden." Die Bundespolizei weist darauf hin, dass es bereits 2008 Umstrukturierungen gab. Schon damals hatte es allerdings massive Kritik gegeben, dass sie unwirksam seien.


Mehr Polizei, um Flüchtlingsheime zu schützen

Nicht nur bei der Bundespolizei, auch in einigen Bundesländern fehlen Polizisten. Im Gegensatz zur Bundespolizei, deren Personal in den letzten Jahren nicht abgebaut wurde, sondern gleich blieb – obwohl Kritikern zufolge die Arbeitsbelastung stark zunahm –, wurden in vielen Bundesländern Stellen gekürzt. Am stärksten traf es Sachsen-Anhalt. 1998 hatte die Polizei dort laut Statistischem Bundesamt knapp 9.000 Beamte, 2008 waren es nur noch 7.750, 2014 nur noch 6.770. In fast allen der neuen Bundesländer sieht es ähnlich aus. Andere wie Bayern und Nordrhein-Westfalen haben ihr Polizeipersonal hingegen deutlich aufgestockt, ebenso Berlin.

Auch Niedersachsen hat mehr Polizisten als früher. In der Landeshauptstadt Hannover waren nach der Absage des Länderspiels wegen einer Bombendrohung in Minutenschnelle schwer bewaffnete Spezialeinheiten der niedersächsischen Polizei im Einsatz, die noch tagelang durch die Stadt patrouillierten. "Personalmangel war zu dem Zeitpunkt überhaupt kein Thema", sagt ein Sprecher der Polizeidirektion Hannover.

Gerade im Osten werden mehr Polizisten aber nun dringend gebraucht. Das hat auf ganz andere Art mit der Flüchtlingskrise zu tun: Immer wieder gibt es Anschläge auf Unterkünfte für Asylbewerber. Die Polizei versucht, sie zu schützen, aber ihr fehlen die Leute dafür, sagt Uwe Petermann, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei in Sachsen-Anhalt: "Man hat der Polizei ein völlig neues Aufgabengebiet gegeben, ohne personelle und finanzielle Ressourcen bereitzuhalten. In Sachsen-Anhalt sind derzeit mehr als 300 Beamte ausschließlich mit der Bewältigung der Flüchtlingssituation beschäftigt."

Dazu gehören Streifen vor geplanten oder bewohnten Flüchtlingsunterkünften, um etwaige Angreifer abzuschrecken. Und Einsätze, wenn es in den Unterkünften zu Streits oder Schlägereien kommt. "Nicht nur Verkehrskontrollen bleiben liegen, sondern auch die Aufarbeitung von Straftaten", sagt Petermann.  

Soldaten sollen Polizisten werden

Die Länder haben verschiedene Strategien, um das Problem zu lösen. Sachsen will sich mit 550 "Wachpolizisten" behelfen, die die Polizeibeamten bei der Bewachung von Flüchtlingsunterkünften unterstützen sollen. Nur zwölf Wochen soll ihre Ausbildung dauern. Danach dürfen sie laut entsprechendem Gesetzentwurf nicht nur Befragungen und Durchsuchungen von Personen durchführen, sondern auch Fesseln und sogar eine Pistole tragen.

In Sachsen-Anhalt sollen rund 300 ehemalige Bundeswehrsoldaten im Schnellverfahren zu Hilfspolizisten umgeschult werden. Das sei höchstens eine "Notlösung", sagen die Gewerkschaften, Polizeiarbeit gehöre in die Hände richtiger Polizisten.

Die Bundeskanzlerin empfing kürzlich gemeinsam mit Innenminister de Maizière 180 Bundespolizeibeamte aus dem Grenzeinsatz im Kanzleramt. Dabei soll sie ihnen besonders dafür gedankt haben, dass sie mit "Hingabe" so einen guten ersten Eindruck für die ankommenden Flüchtlinge machten. Irene Mihalic sagt, darauf könne die Bundesregierung sich nicht verlassen. Und auch die Polizisten selbst müssten "ihre Grenzen kennen und sagen: Hier ist Schluss, ich kann nicht mehr." Dass dieser Punkt längst überschritten sei, betonen die Gewerkschaften unermüdlich.

Polizisten fühlen sich gebraucht

Doch die Polizisten selbst sehen das nicht alle so: Sie mögen kaputt sein nach einer Zwölf-Stunden-Schicht, aus der dann doch wieder eine mit sechzehn Stunden wurde. Aber: Sie fühlten sich gebraucht, sagt ein führender Beamter der Bereitschaftspolizei über den Einsatz in Rosenheim. Dienst nach Vorschrift ist da schon lange kein Thema mehr.

Viele seiner Kollegen wollten freiwillig verlängern, berichtet der Beamte – und dafür gebe es einen Grund: "Man hat endlich das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun." Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass er  auf seinem einwöchigen Einsatz sieben Tage am Stück arbeite, stets in einer Zwölf-Stunden-Schicht. Aus seiner dritten Woche an der Grenze wird er mit insgesamt 250 Überstunden gehen. Nur etwa ein Drittel davon hatte er schon vorher auf dem Konto. Solange er sich nach dem Einsatz richtig ausschlafen könne, sagt er, "geht das in Ordnung".



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