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Asylverfahren: An diesem Lehrgang hängen Schicksale | ZEIT ONLINE

Alles soll schneller gehen, besser und einfacher. "Denn die Sache läuft nicht gut", sagt Frank-Jürgen Weise. Die Sache, damit meint er: Daten von Asylbewerbern erfassen, die Flüchtlinge einzeln anhören, ihre Anträge weiter bearbeiten, schließlich entscheiden: Der darf bleiben, jener nicht.

Weise leitet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) in Nürnberg. Das Amt ist für alle Asylanträge zuständig, die die vielen tausend Flüchtlinge stellen, die gerade nach Deutschland kommen. Doch schon lange kommt das Amt nicht mehr hinterher, all die vielen Anträge zu bearbeiten. Hunderttausende Menschen warten auf ihren Beschluss. Weise sagt: "Das ist das Schlimmste. Dass Menschen warten müssen, ohne Arbeit und Orientierung." Doch es geht nicht schneller, denn es fehlt an qualifiziertem Personal, das über die Berechtigung der Asylgesuche entscheidet.

Das soll sich nun ändern. In einem kürzlich eingerichteten "Qualifizierungszentrum" schult das Bamf im Schnellverfahren sogenannte Vollentscheider. In sechs Wochen lernen sie, in Anhörungen über Schicksale zu urteilen: Kann ich glauben, was der Asylbewerber mir da erzählt? Wird er wirklich verfolgt? Gehört er zu einer verfolgten Minderheit? Oder lügt er mich an? Und schließlich: Hat er ein Recht, hierzubleiben? Am Montag ist Weise in den dritten Stock des Backsteinkastens im Nürnberger Süden gekommen, um sich die Fortschritte seiner wichtigsten Leute anzuschauen.

Ganz schnell integrieren

Von denen, die hier ihr Handwerk lernen, hängt ab, ob klappt, was sich Weise als Ziel gesetzt hat: Der Rückstand in der Antragsbearbeitung soll nächstes Jahr Geschichte werden. Das geht aber nur, wenn neue Gesuche zügiger als bisher beschieden werden. Wer bleiben darf, müsse danach "ganz schnell integriert" werden. Wer nicht, schnell abgeschoben. Weise gilt als Macher. Ebensolche will er künftig auch in den Außenstellen seiner Behörde sehen. Mit entsprechendem Elan bewegt er sich durch die neue Schulungseinrichtung.

Viel zu sehen gibt es allerdings noch nicht. In einem kahlen Seminarraum sitzen vierzehn zukünftige Entscheider vor einer Powerpoint-Präsentation. Im Multiple-Choice-Verfahren werden alle möglichen Fälle von Asylgesuchen durchgespielt. Es ist die zweite Lehrgangswoche. Danach werden noch zwei weitere folgen, bis diese Vierzehn für die letzten zwei Wochen ins Praktikum an eine der Außenstellen geschickt werden. Für den Moment aber begegnen sie den Flüchtlingen nur theoretisch, in der Unterrichtseinheit Das materielle Flüchtlingsrecht. Die heutige Übung beschäftigt sich mit dem Thema Begründete Furcht.

Der Kurs spielt reale Fälle durch. Eine Frau namens Irina verlangt nach Asyl, weil sie sich politisch verfolgt sieht. Sie kann jedoch keine Dokumente vorlegen, die das belegen. Ein kniffliger Fall, aber kein seltener. Dozent Torsten Wojtalla hebt beschwörend die Arme: "Denken wir immer daran: Unsere Antragsteller haben an Belegen oft nur das, was sie im Kopf mit sich tragen."

Wojtalla ist einer von drei langjährigen Entscheidern, die das Bamf als Ausbilder an das Schulungszentrum abgeordnet hat. Sie sollen den künftigen Entscheidern nicht nur beibringen, wie man gute Anhörungen vornimmt, sondern sie stehen in späteren Phasen der Ausbildung als Ansprechpartner zur Verfügung.

Weise hört interessiert zu, während die Teilnehmer erstaunlich routiniert herunterbeten, wie in dieser Situation zu entscheiden wäre. Keiner gibt eine falsche Antwort, was Weise mit merklicher Freude zur Kenntnis nimmt. Zwischendurch stellt er kleine Fragen: "Haben Sie die Fragen vorher ausgeteilt?" "Inwieweit könnte ein Dolmetscher diese Antwort verfälschen?" Als er nach knapp zehn Minuten den Raum wieder verlässt, wirkt er zufrieden: "Ich bewundere meine Beschäftigten."


Nachholbedarf sieht er nunmehr anderswo. Dass die Asylverfahren so lange dauerten, liege weniger an seinen Leuten als vielmehr an den hohen Asylbewerberzahlen einerseits und der mangelnden Solidarität in Europa andererseits. Und an den Asylbewerbern selbst: "Die schwierigen Fälle machen den Schnitt kaputt." Schwierige Fälle, das sind zum Beispiel Menschen, die keinen Pass haben, weil sie ihn verloren haben oder weggeworfen. Ansonsten liefe ja eigentlich alles viel schneller, als es den Anschein habe. 2016 soll die durchschnittliche Bearbeitungsdauer eines Asylverfahrens unter fünf Monate sinken.

Außerdem könnten sich die Entscheider nicht nur auf ihre eigene Einschätzung stützen, sondern müssten Vorgaben aus Berlin folgen.  Die verändern sich immer wieder. Was bedeutet da der Streit in der Koalition um die Einstufung von syrischen Flüchtlingen und deren Familien? Weise sagt, er finde es gut, dass es eine politische Diskussion gebe. Die solle auch ruhig kontrovers geführt werden. Dass es in dieser Frage schon Weisungen an das Bamf gegeben habe, bestreitet er allerdings – zumindest er als Leiter habe keine solche Anweisung bekommen. Dementsprechend habe man auch an den Verfahren für syrische Asylbewerber nichts geändert.

Menschen als Exempel

Dafür, dass das Qualifizierungszentrum schon im August eröffnet wurde, sieht es noch ziemlich provisorisch aus. In der Eingangshalle hängen Kabel von der Decke, es riecht nach neuem Teppich. Alles wirkt merkwürdig steril. Es gibt ein Dolmetscherzimmer und einen Aufenthaltsraum mit Kinderspielzeug, beides menschenleer. Hier warten sonst die Asylbewerber, deren Fälle als exemplarisch erachtet werden, um den zukünftigen Entscheidern als Übung zu dienen. Das sind vor allem Flüchtlinge aus dem Kosovo, aus Albanien und dem Irak.

Elisabeth Alescio leitet das Qualifizierungszentrum. Sie schult nicht nur neue Entscheider, sondern auch viele Mitarbeiter, die von anderen Behörden ausgeliehen werden, um den Personalmangel in der Verwaltung zu bekämpfen. Ein großer Teil kommt aus der Bundesagentur für Arbeit, der Weise ebenfalls vorsteht. Auch die Bundesministerien steuern Leute bei, die Telekom ist ebenfalls beteiligt.

Schon 1.500 Leute wurden im Qualifizierungszentrum ausgebildet. Längst nicht alle sind Vollentscheider. Einfache Entscheider, die Anträge im Nachgang schriftlich bearbeiten, brauchen nur zwölf  Ausbildungstage. Sie werden allerdings nur befristet ausgeliehen und nach spätestens sechs Monaten wieder zu ihrem ursprünglichen Arbeitgeber zurückgeschickt. Bei Verwaltungshilfskräften von Bundeswehr und Zoll reiche sogar ein Tag, sagt Alescio. Diese Mitarbeiter sind für den allerersten Kontakt zu den Flüchtlingen zuständig: Vorakten anlegen, Fingerabdrücke nehmen, Fotos machen. Insgesamt will das Bamf bis Ende 2016 mehr als 7.000 Mitarbeiter beschäftigen. Derzeit sind es rund 3.000.

Vollentscheider gibt es derzeit nur 660. Bis zum nächsten Jahr sollen 1.000 neue dazugekommen sein. Zu ihnen wird Oliver Joost gehören. Er war in den vergangenen sechs Jahren Arbeitsvermittler. Deshalb, sagt er, sei er gut geeignet für den Job: "Ich denke, ich habe ein gutes Verständnis für solche Gesprächssituationen." Er fühlt sich schon nach seiner ersten Woche gut vorbereitet. Angst, dass er überfordert sein könnte, hat er keine: "Es geht ja nicht um mein persönliches Empfinden." Sondern? "Um Hilfe. Dafür ist die Genfer Flüchtlingskonvention schließlich da", sagt er nüchtern.

Solche Sachlichkeit hat sein oberster Chef kurz zuvor als wichtigste Eigenschaft der künftigen Vollentscheider hervorgehoben. Weise will, dass seine Leute möglichst unvoreingenommen entscheiden. Dass ihm der Nachwuchs ausgehen könnte, gehört nicht zu Weises Sorgen. "Wir kriegen die Leute." Dann zieht er merklich zufrieden von dannen.

Alescio äußert sich vorsichtiger: Im Prinzip sei man vom ersten Tag an knapp besetzt gewesen. "Als das Qualifizierungszentrum erdacht wurde, waren die Asylbewerberzahlen andere." Deswegen soll nun kräftig eingestellt werden. Und expandiert. Außer in Nürnberg finden Schulungen in Berlin, Mannheim und Köln statt.


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