Lieber Herr Gaisbauer!
Herzlichen Dank für Ihre Worte an mich. Es freut mich, aus meiner feministischen Blase geholt zu werden. Gleichzeitig bin ich ehrlich mit Ihnen: Es gleicht für mich einem Drahtseilakt, meine Perspektive zu teilen, ohne dabei zu scharf zu klingen. Doch es ist mir wirklich ein Anliegen, mit Ihnen in einen respektvollen Dialog zu treten und Ihre Welt zu entdecken.
Auch mich verunsichert der Zeitgeist manchmal. Ist es etwa schon kulturelle Aneignung, wenn ich mir einen schwarzen Eyeliner auftrage? Mich stört es, dass mir jemand mein Make-up verbieten will. Gleichzeitig bin ich woke und weiß: Als weiße Frau westlicher Herkunft ist mein Phänotyp ein Privileg. Bis vor Kurzem habe ich dies nicht hinterfragt. Aber was maße ich mir an, wenn ich über die Wahrnehmungen erlebter Diskriminierung benachteiligter Gruppen urteile? Sie sehen, ich mache mir viele Gedanken; mein Tagebuch hilft mir dabei, den Überblick zu behalten.
Neue Sprache, neue DynamikenAuch wenn Sie der Zeitgeist verwundert, glaube ich, dass er etwas Positives für Sie und uns alle bringt. Beginnen wir bei der Sprache: Neue Wortschöpfungen und das Gendern sind für viele anstrengend. Für mich ist es aber eine Frage des Anstandes, meine Sprache bestmöglich anzupassen, damit sich so viele Menschen wie möglich respektiert fühlen. Nun lehne ich mich weit aus dem Fenster, wenn ich Ihnen gestehe, dass ich auch Ihren Text dreimal lesen musste, bis ich sozusagen vom Bankett in die Fahrspur fand. (Das offen zu schreiben gehört auch zu dieser neuen Generation, die viele aufregt.) Bitte verstehen Sie mich richtig, ich kritisiere nicht Ihre Art zu schreiben, ich bin sie nur nicht gewohnt.
Neben der Sprache ändern sich dank Social Media auch manche Dynamiken: Berufsstand und Vermögen reichen nicht mehr aus, um gesehen und gehört zu werden. Daniela Brodesser hat sich etwa auf Twitter als Armutsbetroffene zur Wehr gesetzt. Heute hält sie Vorträge, ist Autorin und gründete eine Onlineplattform gegen Armutstabus. Armut im Alter betrifft übrigens vor allem Frauen. Die Gründe: prekäre Beschäftigungsverhältnisse, zu wenig Kinderbetreuungsangebote, Gender-Pay-, Vermögens- und Erb-Gap. Auch wenn es den Frauentag schon seit 48 Jahren - bzw. in der Arbeiter(innen)bewegung seit 1911- gibt, ist das Ziel der Gleichberechtigung trotz Mut und Ausdauer noch nicht erreicht.
Mit dem Stempel ,Alter weißer Mann' dürfen nun auch Menschen, die bisher kaum negativ stereotypisiert wurden, erleben, wie sich das anfühlt - und etwaige blinde Flecken reflektieren.
Nehmen Sie es mir also bitte nicht übel, wenn ich mich über Ihr Gefühl der Bedrücktheit fast ein wenig freue. Das klingt hart, ist aber versöhnlich gemeint. Ohne eigenes Verschulden negative Eigenschaften zugeschrieben zu bekommen, ist richtig unfair. Mit dem Stempel „AWM" („Alter weißer Mann") dürfen nun auch Menschen, die bisher kaum negativ stereotypisiert wurden, erleben, wie sich dies anfühlt - und reflektieren womöglich ihre blinden Flecken. So wie ich mich bemühe, meine zu reflektieren.
Ich bin jedenfalls zuversichtlich, dass Sie nicht zum Misanthropen werden. Dass Sie mit mir in Dialog treten, deutet eher auf eine in Ihnen schlummernde wokeness hin. Mal sehen, ob sie zum Vorschein kommt!
Ihre Johanna Hirzberger
Die Autorin ist Redakteurin von „Radio Radieschen" und freie MItarbeiterin von Ö1. In der Rubrik "Erklär mir deine Welt" schreiben sie und Hubert Gaisbauer einander abwechselnd Briefe.Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf mehr als 175.000 Artikel seit 1945 - und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!
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Die Autorin dieses Essays, AHS-Lehrerin in Wien und Assistentin an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst, wirft einen Blick in die Schule des 21. Jahrhunderts.
Wenn Sie wirklich ein höheres, denkendes Wesen sind, dann werden diese Fragen Sie nicht mehr loslassen.
Seit über 40 Jahren ist Barbara Frischmuth mit der Türkei und ihrer Sprache vertraut. Sie hat den Orient bereist und kennt den Islam, vor allem seine mystischen Traditionen. Ein Gespräch über ihre Literatur, den EU-Beitritt der Türkei, die Enge des Loden-Österreichischen und warum die österreichische Provinz trotzdem faszinierend ist.
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