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Bellen ist sein Tick: Timm (12) hat Tourette - und geht damit mutig an die Öffentlichkeit

Timm Kempf (12) ist ein aufgeweckter Junge mit vielen Talenten und einem überdurchschnittlich hohen IQ. Er hat nur ein Problem: Er bellt wie ein Hund und kann es nicht kontrollieren. Der Schongauer leidet unter dem Tourette-Syndrom. Und das sollen endlich alle wissen.

Schongau - Timm freut sich sehr über den Besuch, der heute zu ihm nach Hause kommt. Der junge Schongauer ist aufgeregt, deshalb muss er bellen, als es an der Tür läutet. Während Timm die ungewöhnlichen Laute von sich gibt, schlägt sich der 12-Jährige mit der Faust auf die Brust und neigt den Kopf zur Seite. Sogenannte Tics durchfahren seinen Körper. Timm kann nichts gegen sie tun. „Es ist wie ein Schluckauf", weiß seine Mutter Sonja Kempf. Wenn ihr Sohn versucht, die Tics zu unterdrücken, werden sie danach umso schlimmer.

Immer wieder muss Timm bellen, während er aufgeregt von seinen Erlebnissen erzählt, die ihm das Tourette-Syndrom beschert. Zu Konflikten kommt es, wenn er unter Fremden ist, die nicht darauf gefasst sind, von einem Jugendlichen angebellt zu werden. Das passierte dem Zwölfjährigen hin und wieder, wenn er in Schongau in der Altstadt unterwegs ist und plötzlich bellt. Einige Fußgänger erschrecken sich und schimpfen den 12-Jährigen dann aus. „Sie meinen, ich mache das absichtlich, weil ich sie ärgern möchte", sagt Timm. Wenn er ihnen dann erklärt, dass das Tourette-Syndrom dafür verantwortlich ist, glauben sie es ihm nicht. Deswegen möchte Timm in die Öffentlichkeit und es allen sagen: „Ich habe Tourette, ich bin aber immer noch ein Mensch, ich bin nicht blöd." Unglücklich wirkt er nicht, während er das sagt. Ganz im Gegenteil. Der 12-Jährige lacht und scherzt: „Ich belle nur, ich beiße nicht."

„Ich belle nur, ich beiße nicht"

Die Mutter blickt stolz auf ihren Sohn, wenn er diese Sätze sagt. Timm ist sehr intelligent und in vielen Bereichen talentiert. Das haben ihr die Ärzte bescheinigt. „Und er ist ein offenes Kind, eine echte Rampensau. „Das hilft ihm sehr", weiß Sonja Kempf, die schwere Zeiten durchlebt hat. Dass ihr Kind anders ist als die anderen, hatten sie und ihr Mann gemerkt, als Timm sechs Jahre alt war. „Er war hyperaktiv, die erste Vermutung war wie so oft ADHS", erinnert sich die Mutter. Bestätigt wurde das aber nicht. Immer wieder bekamen die Kempfs zu hören, „das wächst sich aus". Und eine Zeit lang sah es tatsächlich danach aus, dass die Anfälle verschwinden. Abgesehen von vereinzelten Tics, die sich bei Tim mit Zucken oder Augenrollen bemerkbar machten, hatte er kaum noch Probleme und wurde ruhiger.

Der Junge besuchte die Grundschule bis zur vierten Klasse und wechselte aufs Welfen-Gymnasium. Zwischendurch waren die Kempfs aus ihrer alten Heimat Lüneburg nach Bayern gezogen. Auf dem Gymnasium lief für Tim bis zur 7. Klasse alles glatt, bis es im Sommer vergangenen Jahres mit einem Mal richtig schlimm wurde: „Die Tics kamen im Sekundentakt, wir haben erst gedacht, es sind epileptische Anfälle", erinnert sich seine Mutter. Dazu kam immer wieder das laute Bellen, vor dem sich selbst die Eltern und Timms älterer Bruder (14) erschreckten.

Die Arbeit am Computer beruhigt Timm

Hilfe bekam die Familie vom Uni-Klinikum in München. Die Ärzte diagnostizierten bei Timm das Tourette-Syndrom und sorgten mit einem Gutachten dafür, dass er auf dem Gymnasium bleiben konnte. Timm darf im Unterricht mit dem Computer arbeiten, weil der ihn beruhigt. Wenn Klassenarbeiten geschrieben werden, geht der 12-Jährige in einen anderen Raum, damit er seine Mitschüler nicht stört. Zensuren erhält Timm derzeit keine, er soll die 7. Klasse in aller Ruhe ein zweites Mal machen, sagt Sonja Kempf.

In der Schule hatte es ihr Sohn seit dem vergangenen Sommer zunächst sehr schwer. Vereinzelt gab es Übergriffe auf den Schulhof, die sich aber „allesamt klärten", sagt die Mutter. „Seine Mitschüler aus der Klasse, the Best of 7d, hat ihn mitsamt den Lehrern fabelhaft unterstützt." Mittlerweile wissen in der Schule alle von Timms Problem und können gut damit umgehen. „Er hat sehr gute Freunde und ist in der Schule sehr beliebt." Beim Talentschuppen, in dem die Schüler auftreten, kümmert sich der junge Schongauer im Hintergrund um das Licht und die Effekte. „Er bellt, wenn das Publikum klatscht, dann fällt es nicht so auf", weiß seine Mutter. Und nach einer Vorstellung nahmen ihn die Neuntklässler jüngst auf ihre Schultern und feierten Timm. Zur großen Freude der Mutter: „Er muss immer überall dabei sein. Es hat ihn gerettet, dass er so ein Typ ist", sagt Sonja Kempf.

Musik ist sein Leben

Und was er selbst alles kann, führt Timm seinem Besuch dann auch noch stolz vor. Er setzt sich ans Klavier und spielt fehlerfrei den Beatles-Song „Let it be". Dann bittet er in den Hobby-Keller und greift zu Akkordeon, Keyboard, DJ-Pult und Mikrofon. Im Handumdrehen mischt er einen neuen Song. Und das alles, ohne ein einziges Mal zu bellen. Seine Mutter weiß warum: „Die Musik entspannt ihn, er kann runterkommen, sie ist sein Leben." Egal, was in den kommenden Jahren noch alles passieren wird, sie ist sich sicher: „Timm wird seinen Weg gehen." Zu seinen Leidenschaften zählen nämlich auch das Reiten, Tischtennis- und Theaterspielen.

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