Wenn einer die Kirche zum Kotzen findet, dann horcht Jörg Müller auf. Nicht etwa, weil ihn die Gotteslästerung empört. Der Pater und Psychotherapeut hat dann einen Verdacht.
Wer vorm Altar erbrechen muss, der könnte vom Teufel besessen sein, weiß der Geistliche in Jörg Müller. Der Arzt in ihm warnt, er könnte es mit einem Fall für den Psychiater zu tun haben.
Hunderte Anfragen bekommt Jörg Müller allein aus dem Raum München und Freising jedes Jahr von Menschen, die sich für „dämonisch belastet" halten, wie er es nennt. Sie können es nicht ertragen, in der Nähe eines Kruzifixes zu sitzen, oder beginnen, in fremden Sprachen zu sprechen. Die meisten schickt er zum Arzt. „Es bleibt ein Rest von etwa einem Prozent, der in keine Schublade der Medizin passen will", versichert Müller.
Diese Menschen suchen Rat. Denn sie wissen nicht mehr weiter in ihrer Welt, in der das Böse übermächtig erscheint. Und: Ärzte, Kirchenleute und Beratungsstellen haben den Eindruck, dass Teufelsaustreibung und Besessenheit für immer mehr Menschen ein sehr reales Problem sind. Unter den Hilfesuchenden finden sich vor allem junge Frauen, viele haben einen osteuropäischen Migrationshintergrund. Der Teufel feiert ein Comeback. Gerade erst sahen 8,3 Millionen Menschen zu, wie im ARD-„Tatort: Allmächtig" das Diabolische ausgetrieben werden sollte.
Offiziell wird der große Exorzismus in Deutschland seit dem Jahr 1976 nicht mehr praktiziert. Damals war in Franken die Studentin Anneliese Michel ums Leben gekommen. Nach 67-facher Teufelsaustreibung wog sie nur noch 31 Kilo. Sie starb an Entkräftung und Unterernährung.
Dennoch wird weiter exorziert, auch in Deutschland. Davon ist Alexandra von Teuffenbach überzeugt. Die Kirchenhistorikerin arbeitet im Vatikanischen Archiv in Rom. Sie ist eine Frau, die fest an die Existenz des Dämons glaubt und sich für dessen Austreibung starkmacht.
„Dadurch, dass über hundert Exorzisten sich in Deutschland verstecken müssen und die Bischöfe so tun, als gäbe es sie nicht, gerät das Ganze in die Hände von zwielichtigen Gestalten", warnt sie. Die 42-jährige Italienerin ist die erste Frau, die an einem Exorzismusseminar der Legionäre Christi teilgenommen hat. Die Schwarzhaarige lacht, wenn man sie deshalb ein Teufelsweib nennen will. „Es roch dort nicht nach Schwefel, es war nicht viel spannender als eine Theologievorlesung", sagt von Teuffenbach. In Italien erlebe sie aber täglich, wie sich praktizierende Exorzisten über Diagnose und Behandlung austauschen. Allein der Chef-Exorzist der Diözese Rom, Gabriele Amorth, behauptet, über 70 000 Exorzismen durchgeführt zu haben.
Der Freisinger Therapeut und Theologe Jörg Müller hat das Ritual des großen Exorzismus selbst beobachtet. Gemeinsam mit sechs anderen Ärzten und Priestern versuchte er, einer besessenen Frau in der Nähe von Augsburg zu helfen - mit bischöflicher Genehmigung. „Das Augenverdrehen, Schreien, Sprachenwechseln und die tiefe Bassstimme der Frau waren sehr spektakulär, das war ein Grenzfall", sagt Müller heute. Der hagere Mann mit grauem Kinnbart will schon Erstaunliches erlebt haben mit seinen Patienten: unerklärliches Kettenrasseln, Fensterklopfen im vierten Stock, eine mysteriöse Blase, die unter dem cremefarbenen Teppich seines Arbeitszimmers umherwanderte, wenn ein Hilfesuchender dort kniete.
All das, versichert er, habe er mit eigenen Augen gesehen. Müller weiß aber auch, dass es schwer ist, mit Worten zu erklären, wenn der Teufel unter dem Teppich sein Unwesen treibt. In manchen solcher Fälle, findet der Pater, helfe nur der große Exorzismus, der „Ex", wie Müller sagt. Diesen „Ex" sieht der Priester durchaus pragmatisch. „Beten", findet er, „ist ja nie verkehrt." Deshalb versteht er es gut, wenn „in den Hinterhöfen deutscher Pfarreien Exorzismen heute hier und da noch gesprochen werden".
Gemeint ist nicht der kleine Exorzismus, der schon im „Vaterunser" steckt mit seinem Satz: „Erlöse uns von dem Bösen." Sondern der sogenannte große Exorzismus, ein Wortgottesdienst. Zu ihm gehören das Besprengen mit Weihwasser, die Anrufung Gottes und das Handauflegen. Die Deutsche Bischofskonferenz teilt dazu in einer Handreichung aus dem Jahr 2005 mit: „Der große Exorzismus darf nur dann angewandt werden, wenn für den Exorzisten auch mit moralischer Sicherheit feststeht, dass es sich um Besessenheit handelt und der Betroffene, wenn möglich, zustimmt. Um zu einem solchen Urteil zu gelangen, soll der Exorzist nach Möglichkeit Experten der Medizin und der Psychiatrie heranziehen." In keinem Fall dürfe der Exorzismus ein Ersatz für ärztliche Bemühungen sein.
Laut Kirchenrecht soll jedes Bistum einen eigenen Exorzismusbeauftragten haben. Das bestätigt Ägidius Engel, Sprecher des Erzbistums Paderborn. Und der Mann mit dem so passenden Namen berichtet: „Zwischen 1998 und 2003 hat es in unserer Diözese drei beauftragte Exorzismen gegeben. Die Fälle sind im erzbischöflichen Geheimarchiv dokumentiert.“ Zwei Betroffene erklärten sich danach für geheilt. In den vergangenen fünf Jahren habe es im Erzbistum Paderborn etwa zehn ernst zu nehmende Anfragen gegeben. Doch wo früher exorziert wurde, soll heute der Seelsorger helfen. Und genau da steckt der Teufel im Detail. Wo liegt die Grenze zwischen Theologie und Therapie?
Gero Winkelmann, Vorsitzender des Bundes Katholischer Ärzte, will einen Arbeitskreis „Geistliche Hilfe“ gründen. Der Münchner betreibt eine Praxis für Homöopathie und erhält, versichert er, immer wieder Anfragen von Menschen, die sich in den Fängen des Satans wähnen. „Wir müssen darauf reagieren, dass wir so viele Anfragen bekommen“, sagt Winkelmann. Sein professioneller Kreis soll sich explizit mit dem „korrekten Umgang mit dem Tabu-Thema Exorzismus“ beschäftigen, wie er es in einem Rundbrief an Kollegen formuliert hat. „Bisher wird man mit dem Thema ausgelacht. Die Ärzteschaft und die Kirche sind nicht bereit, sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen“, klagt der Mediziner.
So wird der Mann schnell, vielleicht manchmal allzu schnell zum Fachmann. Die Erfahrung machte auch Pater Jörg Müller. Vor einigen Jahren hatte er den damaligen Kardinal nach einem Kontaktmann für Besessene gefragt. Postwendend ernannte ihn dieser selbst dazu. So erzählt es Müller. Heute stapeln sich in seinem Arbeitszimmer die Briefe von Menschen, die sich an die Falschen wandten.
Menschen, die Hilfe gegen den Teufel, oder was sie dafür hielten, suchten, stießen auf Satanisten, ausgerechnet. Ein Zauberer aus Hamburg forderte seine Klientin auf, ihm eine Schamhaarprobe zu schicken. Pater Müller schüttelt den Kopf. Er will, dass vermeintlich Besessene endlich richtig behandelt werden. Und auch er stellt die Frage: Wann muss ein Mensch in die Klinik, wann in die Kirche?
Wenn heute Menschen zu ihm kommen, die das Böse in sich spürten, testet Müller sie zunächst auf Glaubwürdigkeit. Er stellt zwei Schüsseln Wasser auf den Tisch. Dann will er von ihnen wissen, in welcher das Weihwasser sei. Oder er behauptet, ein Kreuz sei auf die Unterseite des Besucherstuhls gemalt. Wer im falschen Moment zuckt, wird als Lügner entlarvt. „Das sind Fallen, die ich stellen muss“, sagt Müller.
Der Pater prüft die Hilfesuchenden. Die Parapsychologische Beratungsstelle in Freiburg hingegen prüft die Heiler - oder die, die Heilung zumindest versprechen. Den 3000 Menschen pro Jahr, die sich an die Schwarzwälder Einrichtung wenden, bietet sie eine Art Checkliste. „Marktwertanalyse für Exorzisten“ nennt die wissenschaftliche Mitarbeiterin Sarah Pohl das. Sie hat Verständnis für die Not der anonymen Anrufer. „Viele Menschen finden in selbst ernannten Geisteraustreibern zum ersten Mal jemanden, der ihnen überhaupt glaubt.“ Das Ziel der Beratung sei es aber, den Menschen wieder mehr Verantwortung beizubringen. Betroffene sollen lernen, „Sprechzeiten mit ihren Dämonen zu vereinbaren“. Denn auf Dauer könne kein Exorzist helfen. Der verschaffe sich vielleicht Autorität über die Geister, ganz wie ein Schuldirektor eine Standpauke halten könne. Letztlich blieben sie aber mit ihren Dämonen allein.
Die Sorgen der armen Teufel ernst nehmen, das versucht Axel Seegers. Der Weltanschauungsbeauftragte der Erzdiözese München-Freising berät seit 17 Jahren verirrte Seelen. Er sei so etwas wie ein Seismograf für das Merkwürdige in der Gesellschaft. Manchmal klingeln Menschen bei ihm und sagen: „Guten Tag, ich bin das Lamm Gottes.“ Seinen ersten Fall erinnert er noch genau: eine Anruferin, die glaubte, der Teufel höre ihr Telefon ab. Deshalb müsse sie nun das Radio im Hintergrund besonders laut rauschen lassen. „Den Teufel hat sie damit ausgetrickst, der konnte sie dann nicht mehr verstehen“, sagt Seegers, „ich sie allerdings auch nicht.“
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