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Psychisch erkrankte Angehörige - Von der Schuld und Verantwortung, die wir ihnen gegenüber fühlen - im gegenteil

Matthew Henry via Unsplash

Es ist eisig kalt. Mit einer Hand ziehe ich meinen Schal enger um meinen Hals. Wir hasten zur Haltestelle. Haben es eilig und schaffen es trotzdem, zwei Minuten vor dem Bus anzukommen. Ein bisschen außer Puste bleiben wir stehen und Nora sieht mich an. „Ich hab so Angst, dass sie sich was antut." Ich fange an zu weinen. Schon wieder.

Von der Schuld, die man plötzlich glaubt, zu tragen.

Die psychische Erkrankung meiner Cousine und die Tatsache, dass ich die Einzige war, die davon wusste, nahm mich knapp ein Jahr lang ein. Zog mich selbst in psychische Labilität und nahm mir jede Sorglosigkeit, die die Studienzeit bot.

Als meine kleine Cousine mit 8 Jahren im Zeltlager von einer Gruppe zickiger Mädchen aus ihrem Zelt geworfen wurde, ließ ich sie alleine am Bierzeltgarnitur-Tisch sitzen. Als meine Cousine mir für meinen 18. Geburtstag eine riesige Überraschung bescherte, war ich zu verkatert, um meine Freude und Dankbarkeit zu zeigen. Und als sie mit 16 an Depressionen erkrankte, war ich am anderen Ende der Welt und hatte die Zeit meines Lebens.

Die Therapeutin, zu der ich einige Zeit später ging, machte mir mehr als einmal deutlich, dass die Wut in mir nicht stark genug ausgeprägt sei. Dass diese sich doch hinter all meinen Worten verstecke. Was sich da wirklich versteckt hat, ist Schuld. Wut auf ein vergangenes Ich. Regelmäßig holen mich Szenen ein, in denen ich meine Cousine irgendwie im Stich gelassen habe, sie vernachlässigt habe.

Vermutlich größtenteils Situationen, die meine Cousine kaum geprägt haben, an die sie sich nur schwerlich erinnert. Ich mich dafür umso besser. Und meine Schuldgefühle nähren davon. Ich war nicht da, als es mit ihrer psychischen Gesundheit bergab ging. Ich war nicht da, als sie sich immer weiter zurückzog und ihr Zimmer kaum noch verließ. Ich war nicht da, als sie den ersten Therapeuten aufsuchte, auch nicht beim zweiten und der dritten.

Bodenlose, allgegenwärtige Angst

Meine Cousine fühlte sich nicht bereit und wollte vermutlich niemanden belasten. Sie behielt ihr Leiden für sich. Vielleicht hätte ich es früher bemerkt, wäre ich vor Ort gewesen. Vielleicht auch nicht.

Als ich erfuhr, dass sie stark depressiv und suizidal war, wohnte ich fürs Studium bereits in einer anderen Stadt. Uns trennten mehr als 500 Kilometer und ich war die Einzige, die von ihrer Erkrankung wusste. Sie meldete sich selten bis nie. Anrufe blieben unbeantwortet, Nachrichten ungelesen.

Die schlimmsten Szenarien richteten sich häuslich in meinem Kopf ein. Ich lebte in ständiger Angst, dass sie sich etwas antun könnte. Ich dachte, dass ich sie retten müsste oder dass es doch zumindest meine Schuld wäre, wenn ihr etwas zustößt.

Eine Freundin fragte mich irgendwann, was wäre, wenn sich meine Cousine einfach bloß den Arm gebrochen hätte. Ob ich auch so investiert wäre und meine eigene psychische Gesundheit gefährden würde, um meiner Cousine zu helfen.

Der Vergleich war treffend, meine Antwort offensichtlich. Aber es änderte nichts. Meine Cousine litt. In meiner Vorstellung unendlich viel. Und ich litt mit.

Wir kennen nicht alle Antworten, weil wir dafür nicht ausgebildet sind.

Eines Tages packte ich meine Taschen und fuhr zu meiner Familie. Ich überredete meine Cousine mehr oder weniger, es endlich ihren Eltern zu erzählen. Ich hoffte, dass sie ihr helfen könnten, wollte, dass jemand Bescheid weiß, der sie täglich sieht und auch physisch für sie da sein kann. Am meisten wollte ich wohl die Last und Verantwortung von meinen Schultern.

Ihre Eltern wussten dann nach dem Gespräch, dass ihre Tochter depressiv ist und versuchten, sich zu kümmern. Von ihrer Suizidalität wussten sie allerdings nach wie vor nichts.

Und so saß ich einige Monate später nachts mit meiner Cousine im Wohnzimmer meiner Eltern und versuchte, sie dazu zu bringen, sich endlich einen Therapeuten zu suchen. Die Erleichterung darüber, dass ich nicht mehr die Einzige war, die Bescheid wusste, war schnell der alten Last auf meinen Schultern gewichen. Weil ihre Eltern auch nicht alle Antworten kannten.

Weil niemand alle Antworten kennt. Wie viel Ruhe soll man jemandem geben, der sich extrem schnell gestresst fühlt und innerlich nervös wird? Wie viel Druck darf man jemandem machen, der sich die ganze Zeit zurückzieht? Soll man eine volljährige junge Frau dazu zwingen, eine:n Psychotherapeut:in aufzusuchen? Kann ich meiner Cousine einen Vorwurf machen, weil sie sich nie meldet?

Wie mir mein eigenes psychisches Erkranken die nötige Distanz zu ihrem gab.

Im Nachhinein wünsche ich mir nichts mehr, als dass ich mich informiert hätte, mir einige Strategien zurechtgelegt hätte und mehr auf die Gefühle meiner Cousine eingegangen wäre. Aber sie gab nur selten einen Einblick und ich war verzweifelt. Mein oberstes Anliegen war, dass sie am Leben bliebe und sich dementsprechend professionelle Hilfe sucht. Direkt danach kam mein eigener Leidensdruck, den ich vermindern wollte.

Mein eigener Leidensdruck, der schon lange nicht mehr nur daher rührte, dass ich mich für meine Cousine verantwortlich fühlte und zu involviert war. Ich hatte längst eigene psychische Probleme entwickelt oder sie erstmals wirklich bemerkt. Und je mehr es mit meiner eigenen psychischen Gesundheit bergab ging, desto weniger konnte ich mich letztlich um meine Cousine sorgen.

Lange Zeit war ihr Leiden immer noch präsent für mich. Aber während ich am eigenen Leib erfuhr, wie sich Suizidalität anfühlte, merkte ich einerseits, dass sie mir nicht so tödlich erschien, wie ich sie mir bei meiner Cousine immer vorgestellt hatte und andererseits, dass da keine Kapazität mehr war, um mich um irgendjemand anderen zu kümmern.

Alles, was ich irgendwie auf die Reihe bekam, war Tag für Tag aufzuwachen, selten mal eine Vorlesung zu besuchen, damit niemandem auffiel, was mit mir los war, und mich ganz oft krank zu melden.

Und so gewann ich durch mein eigenes Leiden die nötige Distanz, die mir gefehlt hatte, die vielleicht anderen ihrer Familienmitglieder heute noch fehlt. Es ist unendlich schwer, loszulassen und zu akzeptieren, dass man diesen geliebten Menschen nicht retten kann. Die Akzeptanz ist eng verknüpft mit Gefühlen der Ohnmacht und Hilflosigkeit, die wir mit psychisch erkrankten Menschen teilen.

Selbst psychisch zu erkranken hat mir erstmals gezeigt, dass Außenstehende wirklich nicht viel tun können. Vor allem dann nicht, wenn der:die psychisch Erkrankte nicht bereit ist, sich helfen zu lassen.

Alles, was wir tun können, ist da sein, zuhören, unsere Liebsten auch mal rausholen, ihnen Mal um Mal versichern, dass wir sie lieben, ihnen den Besuch eines:r Psychotherapeut:in ans Herz legen, ihnen Hilfe und Unterstützung anbieten. Und uns um uns selbst kümmern.

Wenn du oder jemand in deinem Umfeld dringend Hilfe braucht, erreicht ihr unter 0800-1110111 jederzeit die Telefonseelsorge und unter 116-111 das Kinder- und Jugendtelefon. Hier gelangt ihr zu einem Artikel mit Hilfestellen für 16 häufige Probleme. Original