Gemma Michalski steht in ihrer Küche und kocht einen schwarzen Tee. Britisch. So wie sie. Seit 30 Jahren lebt sie in Berlin. Jüdin zu sein ist für sie Teil ihrer Identität, aber längst nicht der wichtigste. Sie ist Frau, Mutter, Ehefrau, Freundin. Jüdin. In dieser Reihenfolge. "Ich bin in eine jüdische Familie geboren und somit Teil dieser jüdischen Geschichte. Aber es bedeutet mir fast gar nichts."
Sie stellt ihren Tee auf dem Küchentisch ab und zeigt auf die vielen Kinderbilder an der Wand. Gemalt haben sie ihre Tochter und die beiden Söhne, als sie klein waren. Auf einem ist ein Weihnachtsmann zu erkennen - dekoriert mit Davidsternen. Für sie war es als Mutter wichtig, etwas an ihre Kinder weiterzuvermitteln. "Meine Pflicht war es, ihnen dieses Geschenk zu geben. Was sie damit machen, das ist mir egal."
Ihr mittlerer Sohn Isaiah studiert seit drei Semestern an der US-Universität Harvard. Das habe sich angeboten, sagt er auf einem Spaziergang durch das frostige Berlin-Charlottenburg. Schließlich sei Englisch seine Muttersprache. "Die deutschen Unis sind natürlich super", sagt er, während er durch den Campus der Technischen Universität schlendert. "Aber ich habe gerade so viel Spaß in Amerika." Er wollte das echte Campusleben und auch ein bisschen Abenteuer im Ausland.
Erst in Deutschland die Exotin
Dabei hatte "Jüdischsein" für Isaiahs Mutter Gemma in ihrer Kindheit nie eine Rolle gespielt. Sie ist in London aufgewachsen. Dort gab und gibt es viele Juden, sie hat nie über ihre Identität nachgedacht. 1989 zog sie nach West-Berlin, lernte hier ihren Mann Wenzel kennen. Und hier stellte sie plötzlich fest, dass sie für alle die Exotin war. Egal, in welchem Zusammenhang sie Deutschen gegenüber erwähnte, dass sie Jüdin sei, stockte das Gespräch: Ständig meinten die Deutschen, sie müssten sich verteidigen und betonen, dass sie keine Täter seien. "Ich habe weder über Nazis noch Holocaust gesprochen. Aber meine Präsenz hat immer was hochgebracht."
Gemma beschloss damals, nicht mehr zu sagen, dass sie Jüdin sei. Sie
hatte keine Lust, immer über die Schuld der Deutschen zu sprechen. Denn
eigentlich leben die Michalskis so unjüdisch wie nur vorstellbar. Sie
gehen weder in die Synagoge noch kochen sie koscher.
"Es ist was Besonderes, nichts Besonderes mehr zu sein"
Trotzdem habe sich Isaiah in Berlin immer als Teil einer Minderheit gefühlt, sagt er. Jetzt, in Harvard, sei das zum ersten Mal anders: "Es ist schon was Besonderes, weil ich nichts Besonderes mehr bin." Die jüdische Gemeinde an der Universität sei groß, Jude zu sein, sei kein Thema. Anders zuvor in Deutschland: Vor seinem Studium spielte Isaiah im Film "Das schweigende Klassenzimmer" den Paul. Oft spürte er in der Zeit subtilen Antisemitismus - in Form von jüdischen Verschwörungstheorien: "Ich bekomme Ratschläge, dass ich doch das jüdische Netzwerk in Hollywood nutzen sollte." Wenn das stimmte, wäre sein Leben viel schöner, scherzt er.
Die Großeltern: Zeitzeugen zu Ehren der stillen Helden
Wie schnell Hass und Neid zu Gewalttaten führen kann, musste sein Großvater am eigenen Leib erfahren. Der 1934 geborene Franz Michalski war Sohn einer jüdischen Mutter, nach der Nazi-Ideologie "Mischling ersten Grades". Nur mit Hilfe von sogenannten "stillen Helden" überlebten seine Eltern, sein jüngerer Bruder Peter und er den Holocaust. Viele Monate waren sie unterwegs, rastlos, von einem Versteck ins nächste. Nach dem Krieg zog Franz nach Berlin, lernte seine Ehefrau Petra kennen.
Die Geschichte ihrer Familie ist ebenfalls bewegt. Ihre Mutter war eine südamerikanische Indigena vom Stamme der Guarani, die mit einer jüdisch-ungarischen Familie nach Deutschland kam. Ihr Vater Katholik. Doch beide sind nicht fromm, weder katholisch noch jüdisch. "Weil wir gemerkt haben, dass die Anbetung eines Gottes verlogen und scheinheilig ist. Wenn er so gütig ist, wieso lässt er so viel Leid auf der Welt zu?"
Zeitzeugen des Holocaust: Vortrags-Marathon im hohen Alter
An jüdische Feiertage würden sie nur erinnert, weil ihre Kinder oder die Gemeinde sie dann anriefen. "Wir haben das nicht vor unserem Sohn Wenzel verschwiegen oder ausgegrenzt, aber auch nicht besonders gefördert, dass die Feiertage eingehalten werden. Erst seine Frau Gemma hat in seiner Familie mehr darauf geachtet." Sie verstehen das Judentum eher als Tradition denn als Religion. So handhabte das auch schon die Familie von Franz. Sie waren allenfalls auf dem Papier jüdisch, erst die Nazis machten aus der Familie stolze Juden, schreibt der 84-Jährige in seiner Biografie.Seit über acht Jahren berichten die Michalskis regelmäßig von Franz' finsteren Kindheitserlebnissen. Sie wollen die Menschen ehren, die ihnen geholfen haben, sich vor den Nazis zu verstecken. Ihnen zum Dank gehen sie unermüdlich in Schulen. Ihre Vorträge als Zeitzeugen sind beliebt, Anfragen kommen aus ganz Deutschland. Allein bis März sind 16 weitere Veranstaltungen geplant. Als sie an einem Montagvormittag im großen Musikzimmer einer Gesamtschule vor 60 Schülern die alten Fotos von Franz' Familie anbringen, ebbt der Lärm ab. Gespannte Stille unter den 10- bis 16-Jährigen. Auf dem Tisch liegen Merk-Kärtchen mit Notizen.
Der 84-Jährige melkt pantomimisch Kühe
Seit Franz einen Schlaganfall hatte, übernimmt das Reden seine 82-jährige Frau Petra. Trotz seiner Bewegungsschwierigkeiten wird der 84-Jährige bei manchen Szenen des Vortrags leidenschaftlich. Er melkt pantomimisch Kühe, stellt Balletttanz nach, imitiert Geräusche von Maschinengewehren. Die jüngeren Kinder lauschen gespannt. Die Jugendlichen fläzen teils gelangweilt in ihren Stühlen. Doch das sind die Michalskis gewöhnt: "Das Interesse ebbt mit der Pubertät ab, kommt aber meist mit dem Abitur wieder."
Feindseligkeiten unter den Schülern erlebten sie hingegen nie, betont Petra Michalski. Und auch in ihrem Alltag spiele Antisemitismus keine Rolle: "In der Beziehung leben wir ein bisschen wie hinter einem Vorhang - wir lassen das alles nicht so nah an uns heran." Dabei haben sie Antisemitismus selbst in ihrer Familie erlebt: Einer ihrer Enkel, der jüngere Bruder von Isaiah, wurde monatelang an seiner Schule antisemitisch gemobbt und geschlagen. Schließlich wechselte er die Schule.
Antisemitisches Mobbing gegen Sohn war ein Schlüsselmoment
Auch deshalb geben seine Großeltern ihre Vortragsreihe nie auf: "Es kann immer wieder passieren, was schlecht ist. Geschichte wiederholt sich." Das wichtigste sei deshalb, immer im Gespräch zu bleiben, damit Verständnis wachsen könne. So sieht es auch ihre 53-jährige Schwiegertochter Gemma. Bis zu dem antisemitischen Mobbing gegen ihren Sohn war sie als Unternehmerin tätig. Der Vorfall war für sie und ihren Mann ein Schlüsselmoment. Wenzel Michalski ist Deutschlandchef von Human Rights Watch. Für die Menschenrechte setzt er sich tagtäglich beruflich ein. Dass er sie für seine eigene Familie mal so vehement verteidigen muss, konnte er nicht ahnen. Schließlich ging der jüngste Sohn auf eine Schule, die sich explizit mit ihrem Label "Schule gegen Rassismus" schmückte.
Gemma und Wenzel traten gemeinsam an die Öffentlichkeit, der Fall schlug medial große Wellen. Seit zwei Jahren ist Gemma nun politisch aktiv. Sie wird auf Podiumsdiskussionen und Panels eingeladen, will über Vorurteile gegen "den Juden" aufklären.
Ein verbindendes Element der Michalskis
Ihre Kinder sind einen anderen Weg gegangen: Die Tochter studiert in Großbritannien. Und der Jüngste möchte nach dem Abitur seinen Geschwistern ebenfalls ins Ausland folgen. Eine Entscheidung, die Gemma versteht und unterstützt. Doch am liebsten wäre es ihr, sie würden wieder nach Deutschland zurückkehren. Auch um ihre Familie zu beschützen, arbeitet sie politisch. "Sodass man auch als Jude hier ein ganz normales und langweiliges Leben führen kann."
Für Isaiah war nicht der steigende Antisemitismus der Grund, Berlin
zu verlassen. Sondern seine Abenteuerlust. Er kann sich vorstellen, nach
dem Studium wieder herzukommen, aber auch, nach Großbritannien zu
gehen. Denn in beiden Ländern fühlt er sich zuhause. Langweilig soll
sein Leben aber nicht sein, er hat Großes vor: "Ich hoffe, dass ich nach
dem Studium Geschichten erzählen und Menschen unterhalten kann. Und
dass ich damit vielleicht auch politische Themen in den Vordergrund
bringen kann." Darin sind sich die Michalskis wohl einig: Ihnen liegt
das politische Engagement am Herzen.
Original